engels: Herr Ott, wie geht es Ihnen als Politiker in der Postdemokratie?
Hermann Ott: Wer sagt denn, dass wir in der Postdemokratie leben? Demokratie ist immer ein sich wandelnder Prozess. Da gibt es Fortschritte, da gibt es Rückschritte. Demokratie ist manchmal wie Hausarbeit. Hausarbeit ist total lästig aber wenn man sie nicht macht, sieht es nach zwei Wochen aus wie bei Hempels unterm Sofa. Auch in einem Staat muss man permanent putzen, aufräumen, ausbessern, damit nicht alles die Wupper runtergeht. Deshalb ist es so wichtig, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger mitmachen. Die Politik sollte man nicht allein den „Profis“ überlassen!
Viele Entscheidungen gelten aber inzwischen als alternativlos oder werden in Gremien entschieden, die nicht direkt gewählt sind.
Diese Entwicklung birgt in der Tat eine große Gefahr. Das ganze europäische Projekt steht ein bisschen auf der Kippe. Wie schaffen wir es, unsere Solidarität und unsere Empathie vom Nationalstaat auf Europa zu übertragen? Das wird sich in den nächsten Jahren entscheiden. Leider hat die demokratische Entwicklung in der EU nicht mit der räumlichen Expansion Schritt gehalten. Hier muss eine Vertiefung demokratischer Strukturen erfolgen. Wir brauchen Kandidatinnen und Kandidaten, die sich europaweit zur Wahl stellen. Das wäre doch mal was! Dann würde eine Dänin oder ein Portugiese nach Deutschland kommen und hier Wahlkampf machen. Diese Dinge müssen wir angehen.
Jetzt wird erst einmal der Bundestag gewählt. Als Wähler könnte ich mir ja sagen, dass in Anbetracht der Umfragen sowieso schon alles entschieden ist.
Merkel hat es tatsächlich geschafft, in eine Kohlsche Rolle zu schlüpfen. Sie gibt den Leuten das Gefühl, dass nicht wirklich viel falsch gemacht wird. Sie vermittelt dem Publikum auch, dass da jemand ist, der sich selbst nicht zu wichtig nimmt. Das finde ich an der Kanzlerin übrigens auch sympathisch. Fatal finde ich allerdings ihre absolute Visionslosigkeit. Sie betreibt ausschließlich Krisenmanagement und verpasst dabei wichtige Weichenstellungen. Ich habe einige Biographien über Merkel gelesen. In zwei Punkten sind sich die Autoren einig. Merkel war immer die Beste, Klügste, Schnellste. Und Merkel hat keine eigenen Ideen. Das merkt man in Bezug auf die Energie- und Klimapolitik, das merkt man in Bezug auf den Euro und Europa. Trotzdem ist Merkel populär. Da zitiere ich gern Karl Popper, der sagte, dass nie neue Regierungen gewählt, sondern nur alte abgewählt werden. Mit einer Abwahl dieser Regierung scheint sich eine Mehrheit in diesem Land schwerzutun. Uns geht es besser als anderen.
Was können wir außer wählen noch machen?
Wichtig ist, sich nicht nur aufs Wählen zu beschränken, sondern das Parlament als eine Einrichtung für alle Bürgerinnen und Bürger zu begreifen. Ich habe oft Besuchergruppen aus Wuppertal, Solingen und anderen Städten des Bergischen Landes zu Besuch. Denen sagte ich, dass sie den Politikern auf die Finger gucken müssen. Wenn manche Politiker nicht beobachtet werden, agieren sie anders.
Wir müssen Sie also regelmäßig in Berlin besuchen und alles wird gut?
Die Annäherung muss von beiden Seiten kommen. Politiker müssen sich wieder mehr für ihre Wähler interessieren aber auch die Bürgerinnen und Bürger sollten sich dafür interessieren, was die Parlamentarier aus ihrem Wahlkreis so machen. Und natürlich kann sich jeder auch außerparlamentarisch engagieren, in Stadtteilen und Gemeinden, in Initiativen, bundesweit und auch global in NGOs. All das ist wichtig. Darin sehe ich die große Leistung der Aufklärung, die den Einzelnen für fähig hält, über Dinge mitzuentscheiden. Wir dürfen das in Zeiten der Megakrisen nicht aus dem Auge verlieren.
Aber einfache Antworten waren bei all den Rettungsschirm-Diskussionen nicht zu vernehmen.
Bei Fragen der Finanzkrise fühlte auch ich mich manchmal überfordert. Hier hilft, neumodisch gesprochen, die Schwarmintelligenz. Nicht jeder muss alles wissen. Aber im Zusammenwirken vieler werden bessere Entscheidungen getroffen, als wenn ein Experte allein entscheidet.
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