Man kann durch Straßburg gehen wie durch jede andere große Stadt. Man kann sich bedeutende Bauwerke anschauen, Kirchenkunst bewundern und durch die Einkaufstraßen bummeln. Oder aber man schaut sich die Stadt in ihrer europäischen Dimension an. Denn, um es mit den Worten von Louis Jung, 1986 bis 1989 Präsident der Parlamentarischen Versammlung, zu sagen: „Straßburg ist eine symbolische Stadt der Aussöhnung nach dem Krieg und hat die Aufgabe, für Demokratie, Frieden und Gedankenaustausch einzutreten."
Beginnt man am Place Kléber, stößt man zunächst auf dieAubette. Das ehemalige Soldatenlager ist heute ein weiträumiges Einkaufszentrum, spielte jedoch eine wichtige Rolle im europäischen Einigungsprozess, als hier 1949 die Parlamentarische Versammlung und das Ministerkomitee des Europarates tagten. Am 19. August ergriff Churchill hier das Wort und hielt vor tausenden Straßburgern eine flammende Rede. Er leitete sie ein mit den Worten: „Ich werde die Rede auf Französisch halten – eine harte Probe für die englisch-französische Freundschaft.“ Damit wurde der Krieg endgültig begraben und der Beginn eines gemeinschaftlichen Europas eingeläutet.
Am Place Brogliesteht das Rathaus. Im August 1949 fand hier die erste Sitzung des Ministerkomitees des Europarats statt. Am Place de la République steht der Rheinpalast. Von 1883 bis 1888 vom hochbetagten Kaiser Wilhelm I. im Neorennaissance-Stil erbaut, nutzte der ihn kaum. 1920 wurde er zum Sitz der ersten internationalen Organisation, der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, und erhielt dadurch seinen neuen Namen. Etwas weiter stößt man auf das Denkmal für die Toten des Ersten Weltkriegs. Eine Frau beweint ihre Söhne: Der eine ist für Deutschland gefallen, der andere für Frankreich.
Der weitere Weg führt vorbei am Nationaltheater, an dem Autoren und Regisseure aus ganz Europa ein- und ausgehen, zumPalais Universitaire. Wie der Rheinpalast und die Bibliothek hat er eine europäische Dimension: Sie alle sind baulicher Ausdruck der Donau-Monarchie, man findet diesen Stil auch in Budapest, Wien und Metz. Im Hauptsitz der Uni fand 1949 die erste Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates statt. In ihrem Verlauf rückte die Notwendigkeit eines Abkommens über die Menschenrechte rasch in den Mittelpunkt der Debatte.
Vorbei an der Rue de Schiller, die das Institut für Europastudien beherbergt, geht es zum Europapalast, in der sich im Mai 1949 auf Churchills Initiative hin der Europarat gründete, die erste originär europäische Institution, die alle Führungskräfte in einem Gremium vereinen sollte. Er basiert auf der Aussöhnung und dem Respekt der gemeinschaftlichen Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Weiter geht es durch den im Parc de l'Orangerie zur Statue von Pierre Pflimlin, von 1984 bis 1987 Präsident des Europäischen Parlamentes. Er widmete seine Politik der deutsch-französischen Aussöhnung und der europäischen Einigung. Seinem Engagement ist es zum größten Teil zu verdanken, dass Straßburg zu einem Zentrum der europäischen Politik wurde. Von 1959 bis 1967 war er Mitglied und von 1963 bis 1966 Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Als er 2000 verstarb, ging mit ihm einer der letzten Gründungsväter der Europäischen Union.
Etwas weiter stoßen wir auf die Agora, die seit 2008 die drei Generaldirektionen des Europarates beherbergt. Nötig wurde sie, als nach dem Fall der Berliner Mauer die Anzahl der Mitgliedsländer des Europarates von 23 auf 47 stieg. Hier befindet sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention wacht.
Passenderweise stolpern wir auf unserem weiteren Weg, vorbei am ehemaligen Palast der Menschenrechte, der gegenwärtig unter anderen Sitz des europäischen Filmförderungsfonds ist, über einen Rest der Berliner Mauer. Die vier Teile wurden aufgrund ihrer Symbolträchtigkeit ausgesucht. Weiter geht es vorbei am Europäischen Jugendzentrum, ein farbiger Betonwürfel, eine Begegnungs- und Fortbildungsstätte für junge Leute, die in Jugendeinrichtungen tätig sind, zum Europaparlament. Architektonisch soll es die Idee einer sich ständig in Bewegung befindenden Demokratie verkörpern, und wenn man etwas näher herangeht, scheint die Glasfassade die Notwendigkeit von Transparenz und Notwendigkeit widerzuspiegeln. Runde und elliptische Formen symbolisieren den demokratischen Gedanken.
Nicht weit entfernt ist der Sitz des Kultursenders Arte. Der einzige bilaterale Sender der Welt verdankt die Tatsache, dass er schon seit 1991 auf Sendung ist, dem Einsatz Mitterrands und Kohls. Der französische Staatschef sagte einst zu seinem deutschen Pendant: „Wir sollten gemeinsam etwas für die Kultur tun, was sich nicht auf Politik und Wirtschaft beschränkt.“ Arte wurde der erste und einzige Sender, der von zwei Ländern betrieben wird. Viele bedeutende europäische Filme werden von Arte co-produziert.
Der weitere Weg führt vorbei an der Friedenssynagoge, die sich aufklärerisch versteht und für jeden offen steht, zur Europäischen Wissenschaftsstiftung. Ihr gehören derzeit 72 Forschungsinstitutionen aus 30 europäischen Ländern als Mitgliedsorganisationen an. Sie fördert und koordiniert gemeinsame Forschungsvorhaben und wirbt auf europäischer Ebene für die Interessen der Wissenschaft. Sie vergibt seit 1999 jährlich den European Latsis Prize. Der Wissenschaftspreis ist mit 100.000 Schweizer Franken dotiert und wird jährlich in wechselnden Wissenschaftsgebieten ausgeschrieben.
Wer einen solchen „europäischen“ Spaziergang doch mit Shopping und mit Kommerz verbinden möchte, sollte im Dezember kommen. Denn dann findet hier einer der ältesten Weihnachtsmärkte Europas statt – seit 1570.
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