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Den Letzten beißen die Mähdrescher
Foto: Manfred Görgens

Geschäftssinn oder Ohnmacht?

24. September 2015

Tausende Landwirte müssen ihre Höfe aufgeben – THEMA 10/15 VOGELFREI

Wohnen in einer Scheune, arbeiten in einem Schweinestall? Die Frage ist nicht wortwörtlich zu verstehen. Strohballen und Viehzeug findet in den Zimmern der Mietwohnungen keiner mehr, und auch nicht in den neu eingerichteten Büroräumen. Es ist ein neuer Weg, den viele Landwirte gehen – weil sie ihn gehen müssen: Den Hof nicht aufzugeben, aber die Arbeit. Die Immobilien umzubauen und anderweitig nutzbar zu machen. Das Land zu verpachten. Dienstleister zu werden. Die wirtschaftliche Entwicklung der Agrarwirtschaft in Deutschland hat es nötig gemacht, dass sich Landwirte neu orientieren müssen. Kleine und mittlere Betriebe sterben aus.

Industrielle Landwirtschaft birgt viele Chancen – und noch mehr Risiken. Kleine Betriebe sterben aus, Monokulturen, Dünger und Pestizide gefährden die Artenvielfalt. Machen wir Flora und Fauna zum Outlaw?

Im Bericht „Ausgewählte Daten und Fakten der Agrarwirtschaft 2014“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft wird das in Zahlen deutlich. Zwischen 2010 und 2013 ist die Zahl der Höfe bis 100 Hektar um insgesamt 15.700 gesunken – also verschwinden pro Jahr etwa 5000 Bauernhöfe von der Bildfläche. Nicht umsonst wurde der Haushalt des Bundesministeriums 2014 in einem Bereich um knapp 10 Millionen Euro angehoben, nämlich in dem der Nachhaltigkeit, Forschung und Innovation. Auch über Fördertöpfe von Bund, Ländern und der EU wird versucht, neue Methoden zu generieren, die den Höfen wirtschaftlich helfen. So flossen zum Beispiel im Mai 650 Millionen Euro in das neue EULLE-Programm („Entwicklungsprogramm Umweltmaßnahmen, Ländliche Entwicklung, Landwirtschaft, Ernährung“), des Landes Rheinland-Pfalz. 300 Millionen Euro kamen als Zuschuss aus Brüssel.

Wenn Förderungen nicht mehr helfen, eine Spezialisierung nicht mehr möglich ist, das Geld knapp wird und die Kinder den Hof nicht übernehmen wollen, weil sie lieber einer anderen Tätigkeit nachgehen – was dann? Der Grundbesitz ist ja zunächst noch da. Bauernhäuser zu kaufen ist heutzutage relativ einfach, will heißen, das Angebot ist da. „In Nordrhein-Westfalen finden Sie derzeit 283 Bauern- oder Landhäuser zur Miete oder zum Kauf“, zeigt zum Beispiel das Portal Immobilienscout24.de an, das monatlich rund sieben Millionen Besucher verzeichnet. Dann kann man sich durchklicken, durch malerische Höfe in Euskirchen, Hagen oder Wesel. Aber nicht vergessen: Hinter jedem dieser Häuser steckt eine Geschichte – ob des Geschäftssinns oder des Scheiterns oder der Ohnmacht vor dem Prinzip Marktwirtschaft, bleibt Ihnen überlassen.

Die Landwirtschaftskammern gehen mit einem gesunden Realismus an die Sache heran. Auf ihrer Internetseite findet sich der Praxisleitfaden „Umnutzung landwirtschaftlicher Gebäude“. Dort werden „neue Perspektiven für alte Gebäude“ versprochen. „Um die Wohn- und Lebensqualität des ländlichen Raumes zu erhalten, ist es wünschenswert, dass landwirtschaftliche Gebäude erhalten werden, bevor sie verfallen“, heißt es dort. Und natürlich können die Landwirte noch Geld damit machen. Sie können den Leitfaden ausfüllen, um erste Fragen zum neuen Projekt in spe selbst zu beantworten. Die Kammer rät zum Beispiel dazu, einen Businessplan zu erstellen, wenn die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund steht. Die Vorschläge zur Umnutzung sind vielfältig: als Bürofläche, als Ferienwohnungen, als Gastronomiebetrieb, als Gewerbebetrieb für Handel, als Handwerksbetrieb, als Kindertageseinrichtung, als Atelier, als Lager, als Mietwohnung, als Praxisräume, als Schulungseinrichtung, als Tierpension oder -klinik.

Ein interessantes Modell ist sicherlich auch das der Solidarischen Landwirtschaft („Solawi“). Laut der gleichnamigen Internetseite haben sich in Deutschland bereits Menschen auf 86 Betrieben zusammengetan, um dort gemeinsam Anbau zu betreiben. Mehr als 100 Solawis sollen in Gründung sein. Gruppen von Menschen schließen sich dafür zusammen, um einen Hof gemeinsam zu betreiben. Sie bauen quasi ihr Gemüse und Obst selbst an, eine Art „Urban Gardening“, nur auf dem Land und in groß. Das soll auch den Grundbesitzern helfen, die dann vielleicht nicht mehr gezwungen sind, Land und Immobilien abzutreten oder umzuwandeln. „Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, haben meist nur die Wahl entweder die Natur oder sich selbst auszubeuten. Ihre Existenz hängt von Subventionen und  Markt- bzw. Weltmarktpreisen ab. Beide sind Faktoren, auf die sie keinen Einfluss haben und die sie häufig zwingen, über ihre persönliche Belastungsgrenze sowie die von Boden und Tieren zu gehen, oder ganz aus der Landwirtschaft auszusteigen. […] Solidarische Landwirtschaft ist eine innovative Strategie für eine lebendige, verantwortungsvolle Landwirtschaft, die gleichzeitig die Existenz der Menschen, die dort arbeiten, sicherstellt und einen essenziellen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung leistet“, heißt es seitens der Organisatoren.


Aktiv im Thema
www.landwirtschaftskammer.de
www.landservice.de
www.solidarische-landwirtschaft.org
www.weltagrarbericht.de
www.arc2020.eu | Zivilgesellschaftliche Gruppe die neue Konzepte für EU-Agrarpolitik entwickelt

Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und trailer.de/thema

GEMEINWOHL – Der Neoliberalismus frisst seine Kinder?
(Thema im November)
AutorInnen, Infos, Texte, Fotos, Links, Meinungen...
gerne an meinung@engels-kultur.de

Florian Schmitz

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