Exzess – das klingt nach Ausschweifung, hemmungslosen Partys, Maßlosigkeit, oder sogar nach Todsünde. Doch Exzess meint mehr als einen dekadenten Spaß, der nach dem moralischen Zeigefinger verlangt. Exzess ist zunächst einmal ein Heraus- oder Überschreiten. Genau dieses Themas nimmt sich das Internationale Frauenfilmfestival (IFFF) in Dortmund vom 9. bis 14. April an. Es meint damit einerseits den rein filmästhetischen Exzess der Festivalbeiträge, setzt gleichzeitig aber auch den gesellschaftspolitischen Schwerpunkt der vergangenen Jahre fort: Wenn die Gesellschaft Menschen heute zur Selbstoptimierung über die Maße zwingt, wenn in unserem schnelllebigen Zeitalter Bio- und Humanressourcen ausgebeutet werden, ist das ein Exzess, den es aufzuhalten gilt. Daneben gibt es auch förderliche Exzesse, wenn zum Beispiel einzelne Menschen aus gesellschaftlichen Normen ausbrechen, um eigentlich selbstverständliche Rechte – wie das Recht zu lieben – einzufordern.
Exzesse in kleinen Häppchen über vier Stunden hinweg bietet die Lange Filmnacht am Festivalfreitag, in der kurze Stummfilme, Musikfilme, Animationen und Experimentalfilme dem zunächst doch sehr abstrakten Begriff konkretes Leben einhauchen. Von der Faust-Interpretation „Rapsodia Satanica“, einem richtungsweisenden Stummfilm mit Klavierbegleitung, über den Experimentalfilm „Mademoiselle“, der sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum thematisiert, bis zum Musikvideo „Fjögur Píanó“ der Ausnahmeband Sigur Rós mit Shia LaBeouf als Protagonist: Die Lange Filmnacht spiegelt mit ihren Kurzfilmen und Gästen die Vielfalt des Festivals wider (12.4., sweetSixteen). Ebenfalls ab Freitag beschäftigt sich die Filmreihe „Exzess der Ordnung“ damit, wie in unserer Gesellschaft alles vermeintlich Andersartige ausgeschlossen wird, um Ausbrüche aus der Ordnung zu verhindern. Anja Salomonowitz zeigt in „Die 727 Tage ohne Karamo“, wie österreichische Institutionen binationale Liebe zu einem bürokratischen Albtraum werden lassen. Im feministischen Klassiker „Dialogues with Madwomen“ sprechen sieben Frauen über ihre psychischen Erkrankungen, die Entstehungsgeschichte, die Behandlung, und benennen dabei die unrühmliche Rolle von Familie, Kirche und Gesundheitssystem.
Das Kino im U zeigt vom 10. bis 12.4. die Reihe „Exploitation“ und damit ein in sich bereits äußerst exzessives Genre. Das Frauenfilmfestival hat drei Filme von Regisseurinnen im Angebot, die sich gegen den Gedanken wehren, das Genre sei vor allem ein „Männer-Ding“. Mit Penelope Spheeris gibt es rotzig-kritischen Punk in „Suburbia“, mit Barbara Peeters den Monster-Horror „Das Grauen aus der Tiefe“, und Doris Wishman zelebriert die Waffen einer Frau in „Deadly Weapons“ so gekonnt trashig, dass selbst der Geheimnisvolle Filmclub Buio Omega – eine Institution des Genres – sich 2001 mit einem Ehrenpreis vor ihr verneigte. Damit gelingt erfreulicherweise gleichzeitig die Förderung von Frauen in einem Bereich, in dem sie allgemein unterrepräsentiert sind. Auch im Kinofilmbereich ist es laut Festivalmachern leider Fakt, dass Regisseurinnen nicht einmal die 20-Prozent-Marke knacken – obwohl sie an den Filmhochschulen noch zahlreich vertreten sind. Das IFFF macht nicht nur mit Diskussionsrunden auf diese Diskrepanz aufmerksam, sondern wirkt ihr auch entgegen: Zum fünften Mal wird der Internationale Spielfilmpreis für Regisseurinnen verliehen. Der mit 25.000 Euro dotierte Preis geht sowohl an die Regisseurin des ausgezeichneten Films als auch an den deutschen Filmverleih, um so die Kinoauswertung des Gewinners in Deutschland zu fördern. Aus über 100 eingereichten Beiträgen wurden vorab acht Filme aus verschiedenen Ländern ausgewählt, die nun um den Preis konkurrieren. Die Regisseurinnen greifen dabei die Facetten ihrer jeweiligen Gesellschaft auf: „Snackbar“ porträtiert marokkanische Jugendliche in Rotterdam, die in „Alis Imbiss“ eine Heimat und in Ali einen ratgebenden Onkel finden. „Pluto“ aus Südkorea ist ein Thriller unter Eliteschülern.
Da die Förderung von Frauen im Kino- und Filmbereich möglichst früh ansetzen soll, bietet das Festival neben dem breit aufgestellten Schulfilmprogramm (zu dem natürlich auch Jungs herzlich eingeladen sind) einen berufsorientierenden Workshop im Bereich Sounddesign für Schülerinnen ab 16 an. Vorträge über den Feminismusbegriff in den Medien, Workshops und Werkstattgespräche über den Stand weiblicher Filmschaffender runden den kritisch-aktiven Aspekt des diesjährigen IFFF ab. Interessierte aus dem Rheinland können eine Auswahl des Programms in Köln genießen, mit dem sich Dortmund den Festivalstandort alternierend teilt. Exzessive und aktive Teilnahme an den Angeboten des Filmfestivals ist also erwünscht – und für den trailer-Publikumspreis sogar notwendig.
Das Internationale Frauenfilmfestval | 09.-14.04. | verschiedene Kinos in Dortmund
Das Programm:
Dienstag, 09.04.:
9.00: Fidgety Bram (Kino im U) Schulfilmprogramm
11.30: Vierzehn (Kino im U) Schulfilmprogramm
19.00: Ginger & Rosa (CineStar) Festivaleröffnung
Mittwoch, 10.04.:
9.00: Wintertochter (Kino im U) Schulfilmprogramm
11.30: verschiedene Kurzfilme (Kino im U) Schulfilmprogramm
16.00: The Queen of Versailles (Schauburg) Exzess
17.30: Children of Sarajevo (Kino im U) Regiewettbewerb
18.00: Gut Renovation (Schauburg) Exzess
20.00: Leones (Schauburg) Exzess
20.00: Mother's Soul (Kino im U) Regiewettbewerb
20.15: The Ballad of Genesis and Lady Jaye (Schauburg) Exzess
22.30: Humanoids from the Deep (Das Grauen aus der Tiefe) (Kino im U) Exzess
Donnerstag, 11.04.:
9.00: Tricksen mit Trickfilm - verschiedene Kurzfilme (Kino im U) Schulfilmprogramm
11.00: Searching for Sugar Man (Kino im U) Schulfilmprogramm
15.00: Colombianos (Kino im U) Exzess
17.30: Watchtower (Kino im U) Regiewettbewerb
18.00: Houses that are left (Schauburg) Exzess
20.00: Ginger & Rosa (Schauburg) Eröffnungsfilm
20.00: Snackbar (Kino im U) Regiewettbewerb
20.15: verschiedene Kurzfilme (Schauburg) Exzess
22.30: Suburbia (Kino im U) Exzess
Freitag, 12.04.:
9.00: Satellite Boy (Kino im U) Schulfilmprogramm
11.30: Pluto (Kino im U) Schulfilmprogramm
16.00: Dialogues with Madwomen (Schauburg) Exzess
17.30: Die Lebenden (Kino im U) Regiewettbewerb
18.00: Die 727 Tage ohne Karamo (Schauburg) Exzess
18.15: E wie Erschöpfung - verschiedene Kurzfilme (Schauburg)Exzess
20.00: Eat Sleep Die (Schauburg) Exzess
20.00: Jackie (Kino im U) Regiewettbewerb
20.00: Rapsodia Satanica uvm.(sweetSixteen) Exzess: Lange Filmnacht - bis 24 Uhr
20.15: Canned Dreams (Schauburg) Exzess
22.00: Deadly Weapons (Kino im U) Exzess
Samstag,13.04.:
10.00: Think Tank mit LaDOC (Dortmunder U) Workshop
11.00: Leones (Schauburg) Exzess
13.00: Sophie Maintigneux im Gespräch mit Birgit Gudjonsdottir (Schauburg) Werkstattgespräch Bildgestaltung
13.00: verschiedene Kurzfilme (Kino im U) Exzess
15.00: FC GLORIA präsentiert versch. Kurzfilme (Schauburg) Exzess
15.00: verschiedene Stummfilme mit Klavierbegleitung (Kino im U) Exzess
17.30: In the Name of (Kino im U) Regiewettbewerb
18.00: The Queen of Versailles (Schauburg) Exzess
18.00: verschiedene Kurzfilme (sweetSixteen) Exzess
18.15: Anton's Right Here (Schauburg) Exzess
20.00: Filme von Heddy Honigmann (Schauburg) Dokumentarfilm Ehrenpreis
20.00: Pluto (Kino im U) Regiewettbewerb
20.00: Grandma Lo-Fi, Performance: ensemble labsa (plateau) Exzess
20.30: Kurzfilme (Schauburg) Exzess
22.00: Peaches Does Herself (sweetSixteen) Exzess
22.30: Young and Wild (Schauburg) Exzess
Sonntag, 14.04.:
11.00: Stummfilme mit Klavierbegleitung (Kino im U) Exzess
12.00: Gut Renovation (Schauburg) Exzess
14.00: Wasp (Schauburg) Schulfilmprogramm
14.00: Alice Guy Stummfilme mit Begleitung (Kino im U) Exzess
14.00: The Connection (sweetSixteen) Exzess
14.15: Hommage an Anne Charlotte Robertson (Schauburg) Exzess
16.00: Colombianos (Schauburg) Exzess
16.00: Variety (sweetSixteen) Exzess
16.15: After the Future: Postfeministische Medienkulturen (Schauburg) Vortrag
18.00: Eat Sleep Die (Schauburg) Exzess
19.00: Preisverleihung (Kino im U
21.00: Preisträgerfilm (Kino im U) Regiewettbewerb
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