Jazz – frech, subversiv und einst von Kulturkritikern geschmäht – ist inzwischen selbst Teil der Hochkultur. Die furiosen Darbietungen, minutenlang in ungeahnte Klangwelten führende Improvisationen erscheinen Laien als beeindruckende musikalische Rätsel. Events der Jazz-Gemeinde, wie das Moers-Festival, muten an wie ein mysteriöser, teils verstörender und in seinen Glanzmomenten wunderschöner Elfenbeinturm.
Ein Elfenbeinturm mit vielen Kammern, in denen sich mitunter exotische Welten verbergen: Die Wälder Skandinaviens, auf die Bühne gebracht vom Trondheim Jazz Orchestra, zum Beispiel. Sie bestehen aus Versatzstücken skaninavischer Volksmusik, gepaart mit Klangexperimten an der Posaune und der Stimme von Sofia Jernberg – zu Beginn der anfangs beschaulich-folkloristischen Stücke feengleich singend, bei der Zerstreuung der Stücke in Experiment und Improvisation lauthals schreiend.
Eine andere Welt, in die sich Besucher des Moerser Elfenbeinturms wagen konnten: die syrische Wüste, in Szene gesetzt vom Sufi-Musiker Ziad Rajab. Geboren im nun kriegsgeplagten Aleppo will der Sänger und Oud-Spieler die Politik aber nicht Teil seiner musikalischen Welt sein lassen – er singt über Liebe, in Eigenkompositionen und arabischen Traditionsstücken. “Diese Lieder sind älter als die Politik, es ist einfach Kunst-Musik", sagt er. Zudem: "Lieder sind wie Früchte, die erst reifen müssen, bevor sie süß werden", schildert Rajab seine Sicht der Dinge. Politische Songs, meist eine rasche Reaktion auf die Gegebenheiten, hätten nicht die Jahrhunderte Zeit zu reifen, wie die orientalische Musik aus alten Tagen.
Der Lärm hinter einer weiteren Tür stellt sich als das Jazz-Verständnis von Rockmusik heraus: Die Band Z-Country Paradise um den bekannten Saxophonisten Frank Gratkowski und Sängerin Jelena Kuljic. Ohne die seit Generationen sterotypen Posen, ohne die oft sloganhaften Titel und Refrains, weit weg von dem, was Rockmusik oft ist, ganz nah an dem, was sie seit ihrer Geburtsstunde sein will: ein brutaler Angriff auf musikalische Konventionen.
Aber auch hier: Die Musik dreht sich um sich selbst, sie blickt nicht auf die Tatsachen der Welt, sondern nur auf ihre eigenen, unendlichen Möglichkeiten. Reiner Michalke, künstlerischer Leiter des 44. Festivals in Moers, sprach im Vorfeld zwar davon, dass gerade improvisierte Musik den Geist der Zeit einfangen könne, und in Moers den Künstlern das Mandat gegeben werde, auf die Fragen der Zeit zu antworten. Doch die zu finden, in den Kammern des Moerser Elfenbeinturms, ist schwierig.
Aber dann hört man die Zwischentöne, wie beim Saxophon-Virtuosen Colin Stetson: Hektische, erst immer gleiche Saxophon-Töne, ein Dröhnen und Pfeifen wie in einer Fabrikhalle, begleitet vom Klappern und Klacken der Ventile und eine ohrenbetäubende Laustärke, so brachial und druckvoll, dass die Mauern des Elfenbeinturms Risse bekommen und man kurz – ganz kurz – einen Blick auf die Welt jenseits der sicheren Kunstwelt bekommt, eine Welt aus harten, metallenen Klängen, immer lauter, in Desorientiertheit, Hektik und Ekstase.
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