Fettes Brot, Anfang der 2000er: Die einen waren „Nordish by Nature“ und gröhlten die Gaga-Gassenhauer wie „Schwule Mädchen“, für die anderen war „Rap halbtot und gegen Fettes Brot“, die Hits der Hamburger bloß bessere Schlager. Das war Hip-Hops wilde Pubertät. Während der Rap-Fan damals noch den Luxus hatte, gute Musik, die aber eben nicht dem aggressiven Zeitgeist in der Hip-Hop-Welt entsprach, Schlager zu schimpfen, muss man heute mit Entsetzen wahrnehmen, dass der echte Schlager wieder an der Spitze der Charts und auf erschreckend vielen Handys der Jüngeren ist. Die geistlose Musik ist der Soundtrack der Generation Schulzeitverkürzung, die keine Zeit hat für subkulturelles Experimentieren, sondern froh ist, wenn sie einmal die Woche atemlos durch die Nacht torkeln darf – bevor es wieder pflichtbewusst ans Pauken geht. „Im Kopf bist du älter als deine Eltern“ rappen folgerichtig Fettes Brot in „Alle hören Schlager“ – ein Song, den wir auch beim Zeltfestival Ruhr hören werden, und zwar am 19. August.
Vom da bis zum 4. September werden wieder die Zelte am Kemnader See aufgebaut, es locken Musiker aus diversen Genres. Und Rap ist natürlich weder halbtot noch gegen Fettes Brot. Rap hatte nur eine schwierige Phase und musste sich von seiner Elterngeneration lossagen. Und jetzt, wo Hip-Hops Elterngeneration kurz vor der Rente steht, wird man ja doch etwas wehmütig: Die Münchener Storytelling-Könige Blumentopf geben am Kemnader See eines ihrer letzten Konzerte (21.8.). „6 Meter 90“, die grandiose Geschichte über Boygroup-Fanatismus, der offene Brief „Danke Bush!“, „Manfred Mustermann“ – seit 1992 haben Blumentopf zwar nie die großen Hits geschrieben, aber perfekt erzählte Geschichten ohne unnötige Gimmicks. Wenn Topf-Rapper Holunder in seiner neuen Berufung als promovierter Physiker auch nur halb so kreativ ist wie als Geschichtenerzähler, können wir noch in diesem Jahrhundert mit dem ersten Warp-Antrieb rechnen.
Auch im Zelt zu hören ist Namika (21.8.), eine junge Frau, die man gar nicht genug loben kann. Letztes Jahr veröffentlichte sie ihr Debütalbum, seitdem geht sie durch die Decke und spielt unzählige, in der Regel ausverkaufte Konzerte. Das Erfolgsrezept? Deutscher R’n’B minus Kitsch. Und mit Texten, die eingängig, verständlich und schön sind, ohne billige Popsong-Schablonen zu benutzen. Während deutscher Pop gerne im Unkonkreten bleibt, in der Hoffnung, jeder potentielle Kunde projiziere seine Befindlichkeiten in die hohlen Phrasen, nimmt uns Namika in ihre, unsere echte Welt mit: in die leergefegten Post-Partynacht-Straßen. Auf einen billigen Kaffee zur ranzigen Tankstelle. Oder nach Nador, ihre marokkanische Heimat, zu Schlangenbeschwörern und Straßenmalern. Dabei geht es natürlich nicht um Exotismus und Orient-Karneval, vielmehr um die Verschmelzung zweier Welten, die die in Deutschland Geborene besingt: „In meinen Träumen fließt der Main ins Mittelmeer“, singt sie. Vielleicht ja auch die Ruhr. Zumindest an diesem Abend.
Zeltfestival Ruhr 2016 | 19.8.-4.9. | Kemnader See, Bochum | www.zeltfestivalruhr.de
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