Nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln, stellte sich der Platz vor dem Dom als eine wunde Stelle unseres gesellschaftlichen Diskurses dar. Im Sommer wurde dort mit 5000 Passanten während des City Dance von Stephanie Thiersch ausgelassen gefeiert. Zur Jahreswende werden die Augen der Weltöffentlichkeit wieder auf dem Platz ruhen. Die Stadt Köln hat ein Kulturfest angekündigt, an dessen Organisation sie noch bastelt. Derweil gibt es Überlegungen von Stadt und Domkapitel, den Raum um die Kathedrale in Zukunft von Straßenkünstlern frei zu halten. „Ganz furchtbar“ findet Angie Hiesl, eine der bedeutendsten Performance Künstlerinnen Nordrhein-Westfalens „dieses Cleanen des öffentlichen Raums“. Für sie wird dadurch „Lebendigkeit und persönliche Kreativität ausgelöscht“.
Über Jahrzehnte hinweg sammelte Angie Hiesl rund um den Erdball Erfahrungen mit Performance-Aktionen. Probleme gab es etwa in China, wo der öffentliche Raum vollkommen politisiert ist, da der Staat ihn als sein Eigentum betrachtet. Offenen Rassismus erlebte die Kölnerin in England, wo Darsteller vor den Nachstellungen des Mobs geschützt werden mussten. Tatsächlich ist es aber die Freude an den Begegnungen mit Passanten und Künstlern auf der Straße, die ihr Werk prägte. „Es ist der Ort des Unvorhersehbaren. Diese Komponente der fehlenden Kontrolle ermöglicht erst den authentischen Moment“, meint sie. Künstler hinterlassen aber auch Spuren im urbanen Raum, „es bleibt etwas im Gedächtnis und im Gefühl“, so Hiesl. Tatsächlich hat sie dem Rheinufer in Düsseldorf oder dem Rheinauhafen südlich des Doms in Köln mit ihrer Aktion „Aquamarin.50678“ eine Vitalität eingehaucht, die solchen sterilen Arealen zuvor fehlte. Nun können sie anders wahrgenommen werden.
Mit der „Intervention“, wie die Kölner Choreografin Ilona Pászthy ihre Arbeiten nennt, werden Straßen, Plätze und U-Bahnhöfe plötzlich als Orte vorstellbar, die sich von ihren Funktionen lösen und als Material für unsere Fantasie dienen. Die Stadt kann sich wieder in einen Raum der Inspiration verwandeln. Ilona Pászthy unterscheidet deutlich zwischen jenen Projekten, die sie am Rheinufer in Krefeld oder im Kölner Friedenspark realisierte – „dort benutze ich die Natur wie einen Malgrund, in den ich die getanzten Aktionen einlasse“ – oder den Performances auf der Straße. In der Stadt bieten die vorgegebenen Verhältnisse schon reichlich Sprengstoff. Womit könnte man in unserer von Geschwindigkeit besessenen Zeit deutlicher provozieren als mit Langsamkeit? Über drei Tage inszenierte sie unter dem Titel „Silence“ eine 12-stündige Slowmotion-Performance. Manche Passanten mochten soviel Konzentration nicht aushalten und randalierten, andere genossen eine Auszeit für Seele und Gedanken. „Man erreicht mit solchen Produktionen ein ganz anderes Publikum als im Theater“, erklärt sie. So ist die Neugierde der Passanten groß und dieses Publikum speist sich aus allen Altersschichten. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass wir unruhigen Zeiten entgegen gehen, da kann uns die Präsenz der Tanzkunst auf den Bordsteinen unser Straßen vielleicht noch kleine Wunder bescheren.
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