Bewegung ist nicht alleine ein Phänomen, das sich dem Moment verschreibt, sondern auch in unendlicher Kontinuität die Generationen durchzieht. Erbinformationen werden weitergegeben, das Resultat, oder besser gesagt: das, „...was übrig bleibt“, sind wir. Eine lapidare Feststellung, die Ilona Pászthy an den Beginn ihrer neuen Choreografie setzt. Aber so lasch der Titel gewählt ist, die Produktion, die sie jetzt in der Tanzhalle von Barnes Crossing erstmals zeigte, ist von Grazie und kalkulierter Erotik geprägt. Ein Mann, der eine Frau auf seiner Brust hält, ohne die Hände zur Hilfe nehmen zu müssen. Ein Paar, das zu einer schlank gestreckten Skulptur mit vier Händen und vier Beinen verschmilzt. Die Bewegungen werden von knisternden Geräuschen begleitet. Beide Körper sind in unzählige Schichten von Cellophan gehüllt, so dass ihre Oberflächen aneinander kleben und sich ein einzigartiges Pas de deux ergibt, leicht und sinnlich. Eine großartige Eröffnungssequenz.
Ilona Pászthy will von der Macht der Gene erzählen, deren Prägung uns zum Schicksal werden kann, und zugleich weist sie auf die Veränderbarkeit des genetischen Materials hin. So reagiert der Genpool wesentlich flexibler auf intensive menschliche Erlebnisse, als lange Zeit angenommen wurde. Leiden und Schmerz können genetische Veränderungen schon in einem einzelnen Leben bewirken. Um das Thema zu etablieren, montiert Pászthy zwei verbale Exkurse in ihre Inszenierung ein. Neben einer neckisch präsentierten Cocktail-Party mit genmanipulierten Drinks gibt es eine Replik auf eine Talkshow mit Experten. Zwei Szenen, in denen Tanz gegen Schauspiel eingetauscht wird und das Spiel nicht die Authentizität des Tanzes besitzt. Prompt bleiben Energie und Glaubwürdigkeit auf der Strecke.
Dabei wären diese Passagen durchaus entbehrlich, denn die Choreografien der vier Performer (Jelena Pietjou, Hannah Platzer, Olaf Reinecke und Katharina Sim) erzählen beredt von den Irritationen, die uns das Thema bereitet. Hannah Platzer liefert temperamentvolle, ausdrucksstark getanzte Sequenzen. Sie formuliert mit ihren schnellen Bewegungen, in denen sich die Konturen auflösen, das eigentliche Thema der Inszenierung.
Durch den Abend zieht sich das Motiv der Unschärfe, das auf den Möglichkeitsspielraum verweist, der sich durch die unberechenbaren Veränderungen der Gene ergibt. Dazu lieferte der bildende Künstler miegL eine Bühne, auf der transparente Plastikvorhänge die Körper der Tänzer ins Ungefähre rücken. Die weißen Kostüme und das subtil gesetzte Licht von Wolfgang Pütz ermöglichen Bilder einer ebenso flüchtigen wie verführerischen Schönheit. Hier gelingen Bilder, die uns einen Eindruck von der Realität des Körpers eröffnen und ihn zugleich unserem Blick und unserem Zugriff entziehen. Das ist sie, die unabweisbare Tatsache genetischer Wirkung, die doch letztlich immer noch geheimnisvoll bleibt. Stilvolle Bilder gelingen Pászthy, indem sie Körper erotisch auflädt und sie doch mit jedem ihrer Performer in eigenen Versionen variiert. Tänzer werden hier nicht als Material eingesetzt, sondern prägen mit ihrer individuellen Erscheinung die Inszenierung.
„… was übrig bleibt“ | R: Ilona Pászthy | Sa 7.11. 20 Uhr | Barnes Crossing, Köln | 0157 50 62 01 95
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