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Ben Van Cauwenbergh
Foto: Volker Wiciok

„Als echter Künstler sollte man weinen können“

16. April 2020

Aalto-Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh über die „Drei Schwestern“ – Tanz an der Ruhr 04/20

engels: Herr Van Cauwenbergh, Sie studieren mit dem Ensemble Valery Panovs Choreografie von Tschechows „Drei Schwestern“ ein. Es geht um Sinnkrise und Langeweile in der Provinz, der alle Figuren entfliehen wollen. Wie lassen sich diese Motive in ein Tanzstück übersetzen?

Ben Van Cauwenbergh: Für die Tänzerinnen und Tänzer geht es darum, die Emotionen mit dem Körper auszudrücken, um die Traurigkeit der Protagonisten darzustellen. Vor allem die drei Schwestern Mascha, Olga und Irina, aber auch ihr Bruder Andrej sind gelangweilt vom Landleben, suchen Liebe und wollen zurück nach Moskau, wo sie ihre Kindheit verbracht haben. Abwechslung versprechen lediglich die hier in der Provinz stationierten Offiziere, doch letztendlich ändert sich nichts: Irina will den Leutnant Tusenbach heiraten, was den Stabshauptmann Soljony eifersüchtig macht. Es folgt ein Duell zwischen den beiden, wie es in dieser Zeit üblich war, und am Ende stirbt Tusenbach. Olga sucht einen Mann, mit dem sie in die Stadt ziehen kann, doch letztendlich wird sie Schulleiterin. Mascha liebt den verheirateten Werschinin und kehrt aber schließlich zu ihrem Mann Kulygin zurück. Es ist also alles wie ein Kreislauf in sich geschlossen. Das ist durchaus aktuell.

Dieses Motiv des Nicht-weg-könnens hat Parallelen mit der Biografie von Valery Panov: Er wurde in der ehemaligen Sowjetunion an der Ausreise gehindert.

Ja, das Stück bzw. das Ballett ist sehr aktuell. Die Figuren bei Tschechow müssen an einem Ort ausharren: Das entspricht dem, was die Refugees erleben. Sie sitzen fest und kommen nicht weg.

Hat diese Aktualität auch eine Rolle in der Einstudierung des Stücks gespielt?

Nein. Doch ist dieses Motiv für Panov enorm wichtig. Er wollte ja auch weg aus Russland, der KGB beobachtete ihn. Aber statt ausreisen zu dürfen, bekamen er und seine Frau Tanzverbot, und er kam sogar ins Gefängnis. Dort trat er in den Hungerstreik. Sir Laurence Olivier und andere prominente Künstler und Politiker setzten sich damals für ihn ein. Das sind Geschichten, die man kaum glauben kann, damals wie heute. Und es tut weh, das alles zu hören. Mittlerweile recht betagt, lebt er seit vielen Jahren in Israel.

Sie kennen Panov schon lange. Wie läuft die Zusammenarbeit mit ihm?

Ich habe schon als Tänzer sehr viel von ihm gelernt. Er hatte einen besonderen Stil, vor allem eine einzigartige Sprungtechnik. Und er ist ein Mensch, den ich sehr schätze. Vor ein paar Wochen war er hier in Essen, um die Besetzung für sein Stück auszuwählen. Er war unheimlich begeistert von der Compagnie. Ich verbinde mit den „Drei Schwestern“ viele schöne Erinnerungen. Ich selbst habe während meiner aktiven Tänzerkarriere die Rollen des Werschinin und des Tusenbach getanzt und kenne dieses Ballett sehr gut. Panov wieder ins Licht zu setzen und ein Stück von ihm hier auf die Bühne zu bringen, war deshalb für mich sehr wichtig. Mein Bruder Tom hat auch diese beiden Rollen verkörpert. Als Gast wird er gemeinsam mit mir die Choreografie mit der Compagnie einstudieren und den Tänzerinnen und Tänzern Tipps geben. Denn die Pas de deux sind wirklich sehr schwer.

Also, ein Duett oder „Tanz zu zweit“?

Ja, genau. Der hohe technische Anspruch der Choreografie ist kennzeichnend für dieses Stück. Es gibt beispielsweise sehr viele „fliegende Hebungen“, die außergewöhnlich sind. So ist das Pas de deux mit Mascha und Werschinin im zweiten Akt des Balletts besonders virtuos und wird immer wieder auch im Rahmen von Galas gezeigt. Das Ballett selbst ist ein Kammerstück mit Klavierbegleitung und recht intim. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob wir es hier im Aalto-Theater machen können. Aber ich denke, es wird funktionieren. Der Orchestergraben wird „hochgefahren“ und ein Teil der Bühne sein. Vorne wird der Pianist in einer Art Wohnzimmer sitzen – natürlich im Stil der damaligen Zeit, mit Samowar usw. Die Kostüme entwirft Alexandre Vassiliev: Er ist ein Experte, was historische Kostüme angeht, und in Russland zum Beispiel auch durch Fernsehproduktionen bekannt geworden.

Und trotzdem soll es um das Leid und diese Ausweglosigkeit gehen, die Panov als aktuell betrachtet. Wie lässt sich das in Tanz übersetzen?

Wichtig ist, dass man die Emotionen, die man als Tänzer zeigen will, auch durchlebt. Alles, was ich getanzt habe, habe ich auch gelebt. Als ich z.B. in „Der Idiot“ von Dostojewski getanzt habe, habe ich in einigen Momenten auf der Bühne wirklich geweint. Als echter Künstler sollte man weinen können. In diesem Stück ist das besonders wichtig, weil es so intim und emotional ist. Was außergewöhnlich für diesen Ballettabend ist: Es wirken auch zwei Schauspieler mit, die ein paar Textpassagen aus Tschechows Stück vortragen.

„Drei Schwestern“ | R: Ben Van Cauwenbergh | geplant: 23., 29.4. je 19.30 Uhr, 9.5. 19 Uhr | Aalto-Theater Essen | 0201 812 22 00

Interview: Benjamin Trilling

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