45 Years
Großbritannien 2015, Laufzeit: 95 Min., FSK 0
Regie: Andrew Haigh
Darsteller: Charlotte Rampling, Tom Courtenay, Geraldine James
>> www.45-years.de
Ergreifendes, intensives Beziehungsdrama
Fremdbestimmt
„45 Years“ von Andrew Haigh
Der britische Regisseur Andrew Haigh ist 42 Jahre alt. Das Paar, von dem er in seinem Drama erzählt, steht bereits kurz vor seinem fünfundvierzigsten Hochzeitstag. Feierlichkeiten zur Rubinhochzeit vor fünf Jahren wurden den beiden verwehrt, also planen Kate (Charlotte Rampling) und Geoff (Tom Courtenay), ihr stolzes Eheleben jetzt zu würdigen. Für den folgenden Samstag ist die Feier angesetzt in ihrer kleinen Gemeinde in Norfolk. Der Film folgt ihnen über die Woche, die der samstäglichen Feier vorangeht. Am Montag aber erhält Geoff einen Brief, der die beschauliche Zweisamkeit, das Eheleben und die Liebe zu Kate in ein neues Licht stellen soll. In den tauenden Gletschern der Schweizer Alpen wurde die Leiche von Geoffs Jugendliebe entdeckt. Katya war damals tödlich verunglückt, konnte nicht geborgen werden und lag seitdem auf Eis. Eine Nachricht, eine Formalität, die Geoff zusehends aus der Bahn wirft. Eine Woche, die den gefestigten Bund erschüttern und Kate an den Rand der Verzweiflung bringen wird.
Perspektivwechsel
Bereits in seinem mehrfach ausgezeichneten Schwulen-Drama „Weekend“ folgte Andrew Haigh seinen zwei Protagonisten nah und unspektakulär über einen überschaubaren Zeitraum von nur wenigen Tagen. Aus einem Wochenende wird hier nun eine Woche. Eine Woche, in der Geoff von Erinnerungen überrannt wird, in der er in Nostalgie verfällt, Reliquien längst vergangener Zeiten herauskramt und daraus so etwas wie einen zweiten Frühling zu basteln sucht. Vor allem aber eine Woche, in der er Verpasstes vermisst. Der Beginn einer aufrüttelnden Irrfahrt, zu der Geoff auf dem Plattenteller Oldies wiederblebt und dazu Zigaretten raucht, ein längst überwunden geglaubtes Laster. Er verliert den Fokus auf das Jetzt, dabei sind seine wiederkehrenden Lebensenergien bloß Folgen einer tragischen, verdrängten und nun wieder erweckten Sehnsucht. Kate, die sich zuerst bloß etwas irritiert weiter um die Organisation des anstehenden Hochzeitstages kümmert, wittert schon bald die Tragweite, die der Amtsbrief zu Wochenbeginn ausgelöst hat. Und dann stellt sie Fragen, die ihre gemeinsamen 45 Ehejahre in ein neues Licht stellen werden.
Der inhaltlich prägende Perspektivwechsel bestimmt auch die Dramaturgie des Films selbst. Was anfangs vielleicht noch überzogen erscheinen mag, die Wucht, mit der Geoff von der fernen Vergangenheit eingeholt wird, die Eifersucht, mit der Kate der Sache zunehmend begegnet, gewinnt mit jeder Minute an Glaubwürdigkeit. Details und kleine Gesten, die man anfangs noch als Randnotizen verortete, bekommen rückblickend Relevanz. Ein Blick, ein Satz. Scheinbar nebenher Erzähltes erwächst zu großer, emotionaler Intensität. Durch den Verzicht auf Filmmusik. Durch den Einsatz der beobachtenden Kamera. Durch intensive, lange Einstellungen, die Haigh nicht etwa durch den Schnitt auf schnelles Tempomontiert, sondern durch den langsamen Zoom verdichtet: Nah, organisch und intim. Durch die Landschaft, das trübe, grüne Norfolk, den Horizont. Und natürlich durch das starke Spiel seiner beiden Hauptdarsteller, die dafür auf der diesjährigen Berlinale beide mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurden und mit kleinen Gesten mehr vermitteln als durch Worte. „Es ist mir immer wichtig, bei allen meinen Filmen, dass die Bedeutung und Wichtigkeit der kleinen Details sichtbar wird“, sagt Haigh, „weil es diese kleinen Details sind, die uns einen größeren Einblick geben, die eine tiefere Wahrheit erzählen.“
Die Zuschauer fordern
Es ist diese besondere Art des Erzählens, durch die „45 Years“ besticht. Ein Drama über zwei Menschen, das eben nicht zwanghaft Dialogdrama ist, sondern Pausen zulässt, Gemütslagen, Stimmungen. Der Film basiert auf der Kurzgeschichte „In Another Country“ von David Constantine, und Haigh zeichnet auch für das Drehbuch verantwortlich. Erklärtermaßen will er nicht alles erklären. Der Film entlässt einen nicht mit einem (Happy) End. Der Hochzeitstag ist gekommen, noch immer verraten Gesten und Blicke mehr als Worte. Am Ende ist viel gesagt, doch noch längst nicht alles. Haigh will seine Zuschauer fordern. Das Ende bleibt unterschiedlich deutbar, und zugleich ist dieses Drama alles andere als unfertig. Bei aller Tragweite dieses einen Briefes, bei aller Tragik gelingt es Haigh, immer auch ein Quentchen Leichtigkeit zu wahren: über die Bildsprache, zugleich aber auch über den Humor, den er streut. So nähert sich „45 Years“ durchaus auch amüsant dem Wesen der Ehe und fragt nach dem Sinn eines Hochzeitstages. Die Antwort ist einfach: Damit die Männer nicht weinen, sich nicht nutzlos fühlen oder sich gar am Ende umbringen. Andrew Haigh entpuppt sich mit seinem zweiten Kinofilm als großer Erzähler, der Emotionalität, Stil, Naturerleben, Schauspielführung und inszenatorische Intensität zu einem erfrischenden, ergreifenden Drama vereint.
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(Hartmut Ernst)
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