Neues aus der Welt
USA 2020, Laufzeit: 119 Min., FSK 12
Regie: Paul Greengrass
Darsteller: Tom Hanks, Helena Zengel, Elizabeth Marvel
>> www.netflix.com/de/title/81210670
Reise in die Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen
Vier Jahre Sandsturm
„Neues aus der Welt“ von Paul Greengrass
Ein Kratzen, ein Schreien, ein Beißen – so kennen wir Helena Zengel aus dem vielfach ausgezeichneten Überraschungshit „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt, der 2019 für den Auslandsoscar ins Rennen ging, dann allerdings nicht nominiert wurde. Aber irgendjemand in Hollywood muss den Film schon auf der Berlinale aufmerksam gesehen haben, denn die Elfjährige wurde für den US-Western „Neues aus der Welt“ an der Seite von Tom Hanks verpflichtet. Die Dreharbeiten fanden im September 2019 statt.
Paul Greengrass hat mit seinem Spätwestern den gleichnamigen Roman von Paulette Jiles verfilmt. Anders als man es bei dem Regisseur von u.a. drei Teilen der „Bourne Verschwörung“ vermuten könnte ist es nicht nur ein Spät-, sondern auch ein Slow-Western, der mit vielen Anspielungen auf die Gegenwart von der allgemeinen Erschöpfung eines zerrissenen Landes erzählt.
Im Texas des Jahres 1870 zieht der ehemalige Drucker Captain Jefferson Kyle Kidd, der im Bürgerkrieg gekämpft hat, durch die Städtchen und liest gegen Eintritt den Menschen aus Zeitungen vor, was sich in der Welt ereignet. Auf seinem Weg trifft er auf eine attackierte Kutsche und ein verängstigtes und zugleich aggressives Mädchen in der Kleidung der Indigenen. Es ist die 11-jährige Johanna, die vor Jahren nach einem Überfall auf ihre Familie vom Stamm der Kiowa verschleppt wurde und seitdem mit ihnen ein neues Leben mit einer neuen Familie lebte. Als der Stamm von der Armee gewaltsam vertrieben wird, muss sie das zweite Mal mitansehen, wie ihre Familie umgebracht wird. Als Kidd sie auffindet, ist sie nicht nur verängstigt, sie spricht auch kein Englisch, sondern nur die Sprache der Kiowa. Und in den Sitten und Lebensgewohnheiten der Weißen findet sie sich auch nicht mehr zurecht.
Kidd will sie bei der Armee abliefern, doch der zuständige Beamte kommt erst in drei Monaten. Kurzerhand übernimmt Kidd den Job, das Mädchen zu Tante und Onkel zu bringen. Auf der langen Reise über hunderte Kilometer lernen sich die beiden kennen und haben einige Abenteuer zu überstehen. Drei Gangster wollen Johanna entführen und als Prostituierte missbrauchen. In einer Region treffen sie auf einen Trupp Abtrünniger, die das Ende der Sklaverei nicht akzeptieren will. Ihr Anführer hat ein restriktives Regime aufgebaut. Schließlich, als der Planwagen abstürzt und sie zum Marsch durch die Prärie zwingt, gelangen die beiden in einen Sandsturm...
Greengrass inszeniert seinen melancholischen Blick auf ein zerrissenes Land betont ruhig. Die getragene Musik und die Kameraflüge über die Landschaft wirken aber anders als Hanks Spiel, das die innere Versehrtheit der Menschen aufscheinen lässt, oder Zengels Darstellung, die die Verzweiflung spürbar macht, eher touristisch. Und auch die Handlung ist stellenweise recht plakativ geraten. Wenn die Gangster versuchen, Johanna zu entführen, hat sie die entscheidende Idee, die zu ihrer Rettung führt. Das könnte man ja glaubhaft vermitteln, denn durch die Erziehung bei den Kiowa hat sie sicherlich einiges an Überlebenstraining erfahren. Nur die entscheidende Idee hat dann mit ihren Lebensumständen bei den Kiowa gar nichts zu tun. Bei den Abtrünnigen hat Kidds aufklärerische Rede dann gleich eine so einschlagende Wirkung, dass es zum spontanen Aufstand gegen deren Anführer kommt. Das ist – übertragen auf die Realität – ein frommer Wunsch. Großartig hingegen ist die Szene mit dem Sandsturm gelungen. Hier erscheinen die Indigenen wie ein Nachhall der Vergangenheit – schemenhaft und stumm ziehen sie vorüber, durch den Sand in eine rötlich-braunen grobkörnigen Farbton getaucht, wie man ihn von alten Fotografien kennt. Ein betrübender Blick auf die Geschichte, ohne die man die Gegenwart nicht verstehen kann. Dass Kidd schon seit vier Jahren herumirrt – also genauso lange, wie in den USA eine Präsidentschaft dauert – ist dann der letzte, deutlichste Verweis auf die Gegenwart der USA.
Der Film ist am 25.12. in den US-Kinos gestartet. Nachdem der geplante deutsche Kinostart am 7.1. verschoben werden musste, veröffentlichte Universal den Film schließlich am 10.2. auf Netflix. Die ebenfalls verschobene Preisverleihung für die Golden Globes findet am 28. Februar statt. Dort ist Helena Zengel neben Glenn Close, Jodie Foster und Amanda Seyfried als beste Nebendarstellerin nominiert.
(Christian Meyer-Pröpstl)
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