Wuppertal, 16. März: Der Alltag, aus dem die syrischen Flüchtlinge heraus ihre Geschichten erzählen, zeigt, wie nah uns deren Schicksal ist. „Ich bin wegen des Studiums nach Wuppertal gekommen“, sagt der junge Hassan, während er in der Schwebebahn sitzt. Nur langsam ergänzt er dann: „Und um vor dem Krieg in meiner Heimat Syrien zu fliehen.“
Der 17-Jährige mit seiner Brille und seinem gewinnenden Lächeln wirkt tatsächlich wie ein ganz normaler Erstsemesterstudent. Und doch ist es alles andere als selbstverständlich, dass er jetzt hier sein kann. Vor sechs Monaten gab ihm seine Familie Geld für die Schlepper und schickte ihn ganz alleine auf die Reise: Wenn du den Krieg überleben willst, musst du nach Deutschland gehen.
Nach einer abenteuerlichen Flucht durch die Türkei, gefährlicher Schlauchboot-Überfahrt nach Griechenland und Grenzschikanen auf der Balkanroute ist er nun in Wuppertal. Ein junger Mann, der auf eine Perspektive für die Zukunft wartet. Und doch wird sein Schicksal in der aktuellen politischen Debatte auf diesen einen anonymen Begriff reduziert: Flüchtling.
Flucht ist das alles beherrschende politische Thema der letzten Monate. Und obwohl kaum ein Tag vergeht, in dem man nicht Bilder von Flüchtlingen in den Abendnachrichten sieht, weiß man häufig doch sehr wenig über deren Einzelschicksale. Diesem Wust an Pauschalisierungen hat das Medienprojekt Wuppertal nun die sehr persönlichen Geschichten von Menschen entgegengesetzt, die vor dem Krieg in ihrer Heimat ins Bergische geflohen sind.
Sieben Kurzfilme sind so in den letzten Wochen entstanden. Das ganze Jahr über werden die jungen Filmemacher des Medienprojektes weiteres Material sammeln. Schon jetzt sind zahlreiche Protagonisten zur ersten Filmpremiere des Projekts „Flucht“ erschienen. Der große Saal des CinemaxX ist gefüllt mit jungen Menschen, von denen viele das Thema Flucht aus eigener Erfahrung kennen. 600 Besucher sind es insgesamt. „Viele schauen auf traumatische Erlebnisse zurück“, sagt Medienprojekt-Geschäftsführer Andreas von Horen zu Beginn. „Deswegen werden wir die Teilnehmer diesmal nicht auf der Bühne vorstellen.“
Da sind zum Beispiel die beiden Jugendlichen Abd Al und Malaz, die mit ansehen mussten, wie Schießereien ihre Heimat Damaskus lahmlegten und ihre heimatliche Straße in Schutt und Asche versank. Jetzt leben sie in der Diakonie Aprath. Oder Ibrahim, der alles aufgab, Haus und Familie, um seine Flucht bezahlen zu können und dann miterlebte, wie Menschen die Reise nicht überlebten: Sei es aus Erschöpfung in der Wüste oder weil sie im Mittelmeer kenterten und ertranken. Oder auch die kurdische Familie, die in Aleppo einen gutgehenden Friseursalon besaß, alles verlor und nun darauf hofft, in einem friedlichen Syrien eine neue Existenz aufzubauen.
Es sind Geschichten, die zeigen, welche Schicksale hinter jeder einzelnen Flucht stehen. Man erkennt: Es ist das eine, wenn in der Politik über ein Thema wie Familiennachzug diskutiert wird. Eine völlig andere Sache ist es aber, wenn man dem Familienvater Ibrahim dabei zusieht, wie er nach hartem bürokratischen Kampf auf dem Düsseldorfer Flughafen seine Frau und Kinder in die Arme nimmt, von denen er nicht wusste, ob er sie jemals wiedersehen kann. Das Schicksal bekommt so auf sehr bewegende Weise ein Gesicht.
Doch nicht hinter jeder Geschichte, von denen das Medienprojekt an diesem Abend erzählt, steckt ein Happy End. Das zeigt die Reise eines anderen Filmteams in das Flüchtlingscamp von Calais, wo sich zahlreiche Geflüchtete in slumähnlichen Behausungen an die diffuse Hoffnung klammern, irgendwann von hier nach England zu gelangen. Doch auf dem Friedhof von Calais liegen die Menschen begraben, die bei diesem Versuch bereits starben: Geboren 1992, 1993 gestorben 2015, 2016 steht auf den Grabplatten. Und die Reihe der Gräber ist lang.
Die Zuschauer im Saal verfolgen die Geschichten gebannt. Manchmal brandet Szenenapplaus aus. Vor allem dann, wenn auf der Leinwand Menschen erscheinen, die sich für die Flüchtlinge engagieren. Es ist vielleicht nicht so einfach, wie einer der Volunteers in Calais sagt: „Hört auf, diese Länder zu bombardieren, dann hören diese Leute auch auf, zu uns zu fliehen.“ Und doch spüren die Zuschauer im Saal, dass es die Haltung der Menschen ist, die den entscheidenden Unterschied ausmacht.
Auch davon erzählen die Kurzfilme: Wenn die Geflüchteten voller Dankbarkeit über die Gastfreundschaft berichten, die sie in Wuppertal erfahren haben und gleichzeitig ihre Zukunftspläne in Syrien beschreiben, wenn der Krieg dort endlich aus ist, dann hat das auch mit Menschen wie der Familie Leist zu tun. Einem Ehepaar, das sich ehrenamtlich in einem Familien-Paten-Projekt engagiert und einer geflohenen Familie das Ankommen in Deutschland mit Möbelspenden und der Hilfe bei Behördengängen erleichtert.
Frau Leist bringt die Sache auf den Punkt: „Wenn jede hier ansässige Familie eine geflüchtete Familie unterstützen würde, wäre das die einfachste Art der Integration.“ Es ist eine Haltung, über die das Publikum nach diesem Kinobesuch noch nachdenken wird.
Alle Filme befinden sich auch auf dem Youtube-Kanal des Medienprojekts.
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