„Wir bemerken, dass wir die Kunstgattungen Theater, Tanz und Performance gar nicht mehr sauber in Schubladen voneinander trennen können. Die Auseinandersetzung mit Musik und Text wird so intensiv, dass man nicht mehr entscheiden kann, ob sich das, was wir machen, noch als Sprechtheater oder als Performance bezeichnen lässt. Es passiert vielmehr etwas für und mit dem Publikum in Echtzeit.“ Stephanie Thiersch, die Choreografin der Gruppe Mouvoir, beschreibt die kreativen Umwälzungen, die sich in unseren Tagen in den darstellenden Künsten vollziehen. Eine Entwicklung, die das Festival Urbäng! 2018 in der Orangerie des Volksgartens in Köln aufnimmt. Die Vorsilbe ‚Ur‘ steht für die Urbanität, die sich derzeit in unserem Alltagsleben neu formuliert. Das Theater reagiert darauf, indem sich etwa die Bühnensituation auflöst. So bringen Jörg Fürst, Matthias Jung und Rosie Ulrich ihr Publikum für die Produktion „Das Loch – Untergang und Utopie“ im Shuttle nach Kerpen-Manheim ins Braunkohlerevier. Die Reflexion der Wirklichkeit, die zu den zentralen Aufgaben des Theaters gehört, findet nun gleich vor Ort statt.
Auch Stephanie Thiersch fordert das Publikum mit einem Trip ins Tanzhaus NRW nach Düsseldorf über die Stadtgrenze hinaus zur Teilhabe an „Common Emotions“. Dahinter verbirgt sich eine wilde Produktion aus Israel und den USA, die nach den gefährlichen Gefühlsschwankungen menschlicher Gesellschaften fragt. Der Kontakt zum Publikum steht im Zentrum des Festivals vom 10. bis 13. Oktober. Schon im letzten Jahr wurden die Besucher zum Stelldichein bei einem Süppchen dazu eingeladen, über die Produktionen zu diskutieren. Jetzt will man die Sache noch intimer angehen, die Tische werden kleiner, die Künstler, die gerade aufgetreten sind, werden mit dem Publikum unmittelbar in Dialog treten. Urbäng! war als Nachfolger von Globalize Cologne vom veranstaltenden Künstlernetzwerk Freihandelszone sowohl international als auch betont politisch angelegt worden. Klar, dass man die aktuellen Geschlechterdiskurse aufgreift. So fragt die Veranstaltung „Female Gaze“ nach der Dimension des weiblichen Blicks. Gibt es den überhaupt? Unterscheiden sich weibliche von männlichen Selfies? Darüber sollen sich Künstler und Künstlerinnen mit Temperament und Witz in die Haare geraten.
„Die Orangerie mit ihrem Garten und der informellen Atmosphäre ist genau der richtige Ort für dieses Festival“, meint Stephanie Thiersch, die eine halböffentliche Situation schaffen möchte, vergleichbar den Arkaden, die in südlichen Ländern zum anregenden Gespräch einläden. Zur Eröffnung wird das Künstlerduo Kiw & Kilonzo aus Köln mit Trompete und Tanz „fluide Zustände des Seins“ entfalten. Massive Körperlichkeit bietet dann „Hasta Dónde?“, ein Duett zweier Männer, denen der Walzer zum Überlebenskampf wird. Aus New York kommt Paul Lazar, der in einem Solo die lebenslange Beschäftigung mit John Cage zu einem Ereignis macht, das man als Fan des zeitgenössischen Tanzes nicht vergisst.
Urbäng! Festival für performative Künste | 10. - 13.10. | Orangerie, Köln | www.urbäng.de
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