Natalia Ginzburg war keine Feministin und zugleich eine Schriftstellerin, die mit radikaler Konsequenz aus der Perspektive der Frauen schrieb. Das Paradox ist die Keimzelle ihres Werkes und wenn man ihren herrlich kauzigen autobiographischen Texten glauben darf, auch ihrer Person. Sie pflegte das Paradox, weil sich aus ihm der Humor ihrer Romane und sein kaum merklicher Übergang in die Tragödie speist. So ist Anna, die Protagonistin ihres Romans „Alle unsere Gestern“ die Jüngste einer lauten und ziemlich lebendigen Familie des italienischen Bürgertums, die in einer Kleinstadt nahe Turin lebt. Niemand hört auf die 16-Jährige, alle sind mit ihren narzisstischen Angelegenheiten beschäftigt, während im Hintergrund der Zweite Weltkrieg losbricht.
Anna trifft sich mit einem Nachbarsjungen, der auf ein Schweizer Internat geht. Sie sprechen im Café über die Gedichte von Eugenio Montale und verschwinden immer häufiger in den Büschen des nahen Parks. Anna wird schwanger, was niemandem auffällt. Sie ahnt die Katastrophe, bleibt aber handlungsunfähig. Bis sie sich Cenzo Rena, einem weltgewandten Freund der Familie, offenbart, der dreimal so alt ist wie sie. Cenzo Rena schlägt ihr eine Heirat vor. Sie willigt ein, die beiden ziehen in ein Dorf im Süden und der lebenshungrige Cenzo Rena wird zum zentralen Protagonisten des Romans. Natalia Ginzburg liefert in diesem erstmals 1952 erschienenen Roman ein gesellschaftliches Panorama der bürgerlichen Linken während des Zweiten Weltkriegs. Sie selbst lebte in dieser Zeit mit drei kleinen Kindern in einem ähnlich abgelegenen Dorf, nachdem ihr Ehemann Leone Ginzburg von den Deutschen zu Tode gefoltert worden war.
Anna hört, was die Menschen sagen und konstatiert, was sie tun, und das deckt sich nie miteinander. In dieser trockenen Sachlichkeit liegt der große Charme der Prosastimme von Natalia Ginzburg. Sie schildert das Äußere ihrer Figuren, wie es in ihrem Inneren aussieht, davon können wir uns dann selbst ein Bild machen. So blähen sich etwa die Männer mit großer Geste auf, während die vermeintlich schwachen Frauen ihre Stärke in ihrer Authentizität besitzen. Ein Vexierspiel, nach dem man süchtig werden kann.
Natalia Ginzburg: Alle unsere Gestern | A. d. Ital. v. Maja Pflug | Verlag Klaus Wagenbach | 336 Seiten | 26 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Einblick in die Schreibstube
Werkstattlesung des Literaturhauses
Sinnkrise, kein Sequel
Heinz Strunk im Kulturzentrum Immanuel
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
Der Wolf und die Migranten
Markus Thielemann im Ada – Literatur 02/25
Diktat oder Diktatur
Autorin Anna von Rath in Velbert – Literatur 02/25