Wie Farrokh Daruwalla aus seinem Roman „Zirkuskind“, den es immer wieder nach Bombay und zu den Zwergen zieht, wirkt auch John Irving von den Abgründen der Menschheit magisch angezogen. An seinen typischen Motiven und der expliziten Sprache scheiden sich die Geister. Was Kritikern als sexuelle Perversion, aberwitzig-narrative Wendungen und somit groteske Überzeichnung des Lebens erscheinen, spiegelt für seine Verehrer den ganz normalen Wahnsinn der menschlichen Natur wider. Dabei versuchen die Figuren der epischen Erzählungen aus „Hotel New Hampshire“ oder „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ eigentlich nur, ihr Dasein irgendwie zu meistern. Moralische Verfehlungen lassen sich nun mal nicht vermeiden, so wie das Leben unweigerlich zum Tod gehört, der häufig makabre Gastauftritte absolviert.
Der 70. Geburtstag Irvings ist Anlass für den Dokumentarfilm „John Irving und wie er die Welt sieht“ von André Schäfer, der versucht, den Mann hinter den Worten zu ergründen. Filmbiographien oder auch Biopics (vom englischen Terminus „biographical picture“) über Künstler jedweder Couleur ergötzen sich generell oft lieber am Skandal oder an Banalitäten des Privatlebens, statt neue Perspektiven zu generieren, experimentelle Ansätze sind rar. Regisseur Schäfer wählt jedoch einen ähnlichen Ansatz wie einst Henri-Georges Clouzot, der mit „Le Mystère Picasso“ mehr wollte, als die Gemälde des spanischen Genies abzulichten und 1956 ein Meisterwerk kreierte. Auch Schäfer setzt beim Werk Irvings an. Über Interviews mit den realen Vorbildern seiner Figuren, beispielsweise im Amsterdamer Rotlichtviertel, erfahren wir viel über die Arbeitsweise des Romanciers, dessen akribische Recherchepraxis legendär ist. Der Schriftsteller hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass seine persönlichen Erfahrungen ihm als Inspiration dienen, das Adjektiv autobiographisch lehnt er dennoch ab, so dass die Details seiner Biographie bestenfalls ergänzend wirken. Denn wer wirklich wissen will, wie Irving die Welt sieht, kommt um die Lektüre seiner Bücher nicht herum. In seinem Kosmos, der über Bären, Ringer und Prostituierte hinaus immer auch von starken Frauen und schwachen Männern bevölkert wird, sind Absurditäten alltäglich. Manchmal ist das perfekte Glück nur eine – von einem Löwen abgerissene – Hand breit entfernt wie in „Die vierte Hand“. Manchmal ist der ultimative Hort der Geborgenheit ein faulender Kuhkadaver, man siehe sein Frühwerk „Eine Mittelgewicht-Ehe“.
Schäfers Film ruft uns mittels Zitaten die schönsten Momente aus Irvings Welt wieder in Erinnerung und tröstet darüber hinweg, das am Ende jeder Geschichte das quälende Gefühl bleibt, man würde mit dem Schließen der Buchdeckel lebenslange Weggefährten einer ungewissen Zukunft überlassen. Glaubt man den finalen Zeilen aus „Garp und wie er die Welt sah“, sind wir in den Augen Irvings aber ohnehin alle „terminal cases“. Wie beruhigend, dass weder Garp, noch Irving darin ein Problem, sondern schlicht den Lauf der Dinge sehen.
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