Was bedeutet Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen? Oft wird in Bezug auf feministische Forderungen angeführt, Frauen hätten doch alles. Was brauchen sie denn noch? Sie dürfen wählen, arbeiten und studieren, es gibt Elternzeit und ihre Kinder müssen nicht mehr zwingend den Namen des Vaters annehmen, um ihre Abstammung anzuzeigen. Wenigstens gilt letzteres im südkoreanischen Kontext in dem sich der Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ (KiWi) von Cho Nam-Joo bewegt. Wir begleiten Jiyoung vom Jahr ihrer Geburt 1982 bis ins Jahr 2016, erfahren mit ihr zunächst, wie sie in ihrer Familie aufwächst, die geprägt ist von Armut und der zentralen Rolle ihres jüngeren Bruders: Er kriegt das bessere Essen, muss weniger Pflichten übernehmen, ist in den Augen ihrer Eltern und der Gesellschaft einfach mehr wert. Aber nicht nur im Mikrokosmos Familie, auch in der Schule, der Universität oder im Arbeitsleben muss sie immer wieder einstecken, weil sie eine Frau ist. Die Erzählstimme ordnet Jiyoungs Erfahrungen ein als das, was sie sind – systematischer Sexismus – auch wenn die Protagonistin selbst nicht immer versteht, was ihr passiert. Sie weiß nur, dass sie ihre Lebensumstände meist ungerecht findet, aber ihre Wut besser für sich behält, um sich zu schützen, um nicht alles noch schlimmer zu machen.
Deutlich wird auch, dass es eine Diskrepanz zwischen dem Erleben der Frauen und den Maßnahmen für Gleichberechtigung gibt. Sie bringen erstmal nur scheinbar voran. Denn Strukturen zu schaffen, ist zwar wichtig, jedoch hilft es den Frauen kaum, wenn sie nicht genutzt werden oder nicht sicher für sie sind. So besteht keine Gerechtigkeit, wenn Frauen wie Jiyoung in einem Unternehmen angestellt werden, sie aber unter schlechteren Bedingungen arbeiten als ihre Kollegen. Denn die Frau kann ja jeden Moment schwanger werden und kündigen. Kündigen? Ja, denn niemand geht wirklich davon aus, dass sie Elternzeit nehmen und wiederkommen würde. Und letztlich empfindet Jiyoung dann auch Erleichterung, als sie für den Nachwuchs kündigt – nachdem ein schwerer Fall von sexueller Belästigung, eine Kamera auf der Frauentoilette, alle Frauen im Unternehmen schwer trifft. Sicher ist die Arbeitssituation für ihre Kolleginnen also nicht.
Cho Nam-Joo hat ein Buch irgendwo zwischen Roman und Sachbericht verfasst und gibt den Lesern keine Chance über die Erfahrungen hinwegzusehen und diese als Einzelfall hinzunehmen. Sie belegt Jiyoungs Erfahrungen immer wieder als gängig mit Statistiken, die die Benachteiligungen von Frauen aufzeigen. Die Geschichte von Jiyoung wird die Geschichte einer ganzen Generation koreanischer Frauen. Und dieses systematische Erfahren von Ungleichheit, von Wertlosigkeit, von Gewalt hinterlässt Spuren.
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