engels: Herr Wirth, wie stehen Sie zur religiös begründeten Knabenbeschneidung?
Stefan Wirth: Ich halte das für einen überflüssigen Eingriff. Er ist medizinisch nicht indiziert. Als Kinderarzt kann ich nicht für diesen Eingriff sein. Er ist eine Körperverletzung und entspricht letztlich einer Verstümmelung. Man entfernt Gewebe, das nicht weg muss und nicht krank ist. Allerdings bestimmen Menschen ihre Normen selbst. Es passiert in vielen Fällen, dass ein Mensch, der sich nicht klar artikulieren kann, zu „seinem Glück“ gezwungen wird.
Gibt es Erkenntnisse über Spätfolgen?
Es gibt keine statistisch zuverlässigen Auskünfte. Es werden Untersuchungen aus den USA zitiert, dass die Empfindlichkeit der Eichel bei Beschnittenen nicht so ausgeprägt ist. Andererseits: Wenn man es nicht anders kennt? Verletzungen während des Eingriffes passieren fast nur dann, wenn er nicht fachgerecht gemacht wird. Solche Spätfolgen sehen wir als Ärzte aber wirklich nicht oft.
Beschneidungsbefürworter sehen auch einen medizinischen Nutzen in dem Eingriff.
In der industriellen Welt gibt es keinen medizinischen Nutzen der Beschneidung.
Was geschieht psychologisch mit Kindern, die früh operiert werden?
Das eine Kind verträgt Schmerzen besser, das andere nicht so gut. Schmerzen können traumatisch wirken. Quantifizierbar ist das nicht.
Macht es vor diesem Hintergrund Sinn, eine Beschneidung durchzuführen?
Was macht Sinn im Leben? Das ist Definitionssache. Macht ein Gebet Sinn? Macht es Sinn, in die Kirche zu gehen? Wenn der Betreffende damit religiös etwas verbindet, werden wir dies respektieren und nicht rational dagegen argumentieren.
Schönheitschirurgen entscheiden doch auch, ob es Sinn macht, einen dickeren Busen oder Po zu haben.
Schönheitschirurgen gehen aber nur mit einwilligungsfähigen Menschen um. Es gibt ja auch viele Menschen, die sich tätowieren lassen. Das Problem bei der Beschneidung ist ja, dass der Betreffende nicht einwilligungsfähig ist.
Als Kinderarzt werden Sie auch mit anderen Religionen konfrontiert, zum Beispiel mit den Zeugen Jehovas.
Bei der Frage der Bluttransfusionen, die die Zeugen Jehovas ablehnen, muss man sich in seltenen, lebensbedrohlichen Fällen über den Elternwillen hinwegsetzen. In aller Regel respektieren wir aber die Wünsche unserer Patienten. Wenn wir auf eine Bluttransfusion verzichten können, tun wir das. Aber in akut lebensbedrohlichen Situationen würden wir auch entgegen dem Elternwunsch eine Transfusion durchführen. Ansonsten würde ein Arzt sehr schnell wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden können.
Gibt es andere Eltern, die Ihnen als Kinderarzt aus weltanschaulichen Gründen Probleme bereiten?
Es gibt das Problem der kategorischen Impfgegner. Eltern, die ihren Kindern den Schutz verweigern, der in der zivilisierten Welt zur Verfügung steht, setzen diese unnötigen Risiken aus. Das ist aber eine Passivhaltung. Die Beschneidung ist ja ein aktiver Prozess. Die Problematik aber ist ähnlich: Der Betroffene kann nicht entscheiden.
Würden Sie sich ein gesetzliches Verbot der Beschneidung aus religiösen Motiven wünschen?
Ich bin weder Muslim noch Jude. Ich kann das Dogma der Beschneidung nicht nachvollziehen. Aber gut, ich zum Beispiel bin katholisch aufgewachsen, und in der Katholischen Kirche gibt es auch Verbote – denken Sie an das Zölibat oder das Verhütungsverbot –, die für zeitgemäß denkende Menschen kaum nachzuvollziehen sind. Aber viele religiöse Regeln haben ja mit rationalen Entscheidungen nichts zu tun. Wenn eine religiöse Lobby deutlich macht, dass ihre Regeln wichtig sind, dann können wir dies als Gesellschaft durchaus mittragen. Was mir ganz wichtig ist: wenn Beschneidung, dann von Fachleuten und nur mit Narkose. Die jetzige Situation treibt die Eltern in die Hände von Beschneidern, die nicht fachgerecht handeln.
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