engels: Herr Kleine, ist die Diskussion um religiös motivierte Knabenbeschneidung überhaut ein Thema für Katholiken?
Werner Kleine: Das Kölner Urteil zur Beschneidung, durch das die aktuelle Diskussion ja ausgelöst wurde, ist natürlich auch für Katholiken wichtig. Es geht dort letztlich um eine Güterabwägung. Ärzte sehen in medizinisch nicht indizierten Beschneidungen eher eine Körperverletzung, Theologen wiederum sehen durch das Urteil die Religionsfreiheit eingeschränkt.
Warum sehen Theologen die Religionsfreiheit gefährdet?
Das Alte Testament kennt drei Bundesschlüsse. Im Noachidischen Bund setzt Gott den Regenbogen in die Wolken, um zu zeigen, dass er nie wieder die Erde untergehen lässt. Im Mosaischen Bund spielen die Zehn Gebote eine Rolle, durch die Gott den Bund mit seinem auserwählten Volk Israel schließt. Dann gibt es den Abrahamitischen Bund, der für die Beschneidung wichtig ist. Gott sagt Abraham, der schon sehr alt ist, er werde ihm aufgrund dessen, dass er sich vorbehaltlos auf Gottes Weisung einlässt, Nachkommen verschaffen, so zahlreich wie die Sterne am Himmel und die Sandkörner am Meer. Das äußere Zeichen, mit Gott diesen Bund einzugehen, ist die Beschneidung. Dies ist eine der 613 Weisungen der Thora. Die Juden fühlen sich dem verpflichtet. Bei den Muslimen verhält es sich ähnlich.
Bei den Christen aber nicht.
Das Neue Testament kennt einen vierten Bund, der die anderen Bünde nicht auflöst, aber doch erfüllt. Das ist der Bund in Jesus Christus, begründet im Kreuzestod. Schon etwa 15 Jahre nach Christi Tod findet zwischen den Gemeinden eine heftige Auseinandersetzung statt, was dieser vierte Bund bedeutet. Auch da ging es schon um die Beschneidung. Es gab eine in der jüdischen Tradition verwurzelte christliche Gemeinde in Jerusalem und eine in Antiochien in der heutigen Türkei, die schon früh die Heidentaufe praktizierten. Die Diasporajuden dort hatten erkannt, warum Jesus am Kreuz starb: Jesus stirbt wie ein Verbrecher, um zu zeigen, dass selbst die Sünder und Verbrecher nicht aus der Liebe Gottes fallen. Sie ziehen daraus den Schluss, dass das Gesetz, die Thora, und damit auch die Beschneidung nicht mehr gehalten werden müssen. Der Bund Gottes gilt jetzt allen Menschen. Die Gemeinde in Jerusalem, die an der Beschneidungspflicht festhielt, ist 70 n. Chr. im römisch-jüdischen Krieg untergegangen. So endete für Christen die Beschneidungspflicht.
Deshalb essen Christen auch Schweine?
Richtig. Wir müssen nicht schächten, wir dürfen Schweinefleisch essen. Wir dürfen am Sabbat mehr als tausend Schritte machen. Die Juden, die sich der Weisung der Thora verpflichtet fühlen, trennen zum Beispiel auch heute noch zwischen Milchküche und Fleischküche, weil es in der Thora heißt, dass man das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen soll.
Der Streit zwischen Christen und Juden ist also knapp 2000 Jahre alt?
Ja, diese Frage hat letztlich zur Trennung von Judentum und Christentum geführt. Ich kann deshalb den Aufschrei der Rabbiner, überhaupt der Jüdinnen und Juden, durchaus verstehen.
Hat die Kirche vergleichbare Probleme?
Wir taufen Kinder. Das ist zwar keine Körperverletzung. Trotzdem wird da eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen. Auch eine Taufe kann man nicht rückgängig machen. Deshalb hat man in der frühen Kirche nur Erwachsene getauft.
Taufe ist mit Beschneidung also vergleichbar?
Nicht direkt. Das ist ein weiterer Unterschied zum Judentum und zum Islam. Jude sind Sie, wenn Ihre Mutter jüdisch war. Muslim sind Sie, wenn Ihr Vater Muslim war. Christ wird man durch Entscheidung. Allerdings reicht da die Entscheidung der Eltern. Ich bin mit drei Wochen getauft worden. Da hat mich niemand gefragt. Wenn mich jemand gefragt hätte, hätte ich keine Antwort geben können. Die Taufe hat mir aber auch nicht geschadet. Deshalb hat das Kölner Urteil für viele Religionen Konsequenzen. In welchem Alter kann ein Kind frei entscheiden, welcher Religion es angehören will?
Können theologische Fragen überhaupt durch Gesetze beantwortet werden?
Die Krakeelereien in Talkshows können den grundsätzlichen Konflikt nicht lösen, weil es dort niemandem gelingt, eine Außenperspektive wahrzunehmen. Sowohl Mediziner, Juristen wie auch die jüdischen und muslimischen Theologen argumentieren von ihrem Standpunkt aus schlüssig. Eigentlich muss man jetzt eine Meta-Ebene einnehmen und nach Lösungen Ausschau halten, bei denen jeder Standpunkt zu seinem Recht kommt. Bei religiösen Fragen wird das Innerste eines Menschen berührt, auch oft in irrationaler Weise. Da kann man mit Gesetzen wenig regeln. Was würde passieren, wenn der Bundestag beschließen würde, Beschneidungen zu verbieten? Glauben Sie, dass ein Kind unbeschnitten bleibt? Das würden die Eltern dann eben heimlich machen.
Welche gesetzliche Lösung könnte den Konflikt um die Beschneidung befrieden?
Es sollte eine gesetzliche Pflicht geben, die Beschneidung medizinisch fachgerecht und unter Vollnarkose oder Sedierung durchzuführen. Dieser Eingriff darf nicht in Hinterhöfen gemacht werden. Das wäre ein Kompromiss, der sowohl den religiösen Empfindungen als auch den medizinischen Bedenken gerecht wird. Radikallösungen sind heutzutage nicht mehr denkbar. Wichtiger als Gesetze ist das gemeinsame Gespräch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass muslimische oder jüdische Eltern, die ihr Kind lieben, ernsthaft ein Interesse daran haben, ihrem Kind zu schaden. Sie wollen ihren Kindern etwas Gutes tun und den Willen Gottes erfüllen.
Hat das Kölner Urteil die Religionen zusammenrücken lassen?
Nein, das sehe ich nicht so. Es gibt den gemeinsamen Stammvater Abraham. Aber ansonsten haben wir ganz unterschiedliche Gottesbilder. Ich persönlich empfinde dies als bereichernd. Es ist gut, uns die Köpfe über diese Frage heiß zu reden, miteinander zu ringen, aneinander zu wachsen, gemeinsam schlauer zu werden. Zum Schluss, wenn wir vor der Tür Gottes stehen, werden wir erstaunt sein, wenn diese aufgeht und Anhänger aller Religionen hereingelassen werden. Ich bin davon überzeugt, dass Katholisch-Sein Spaß macht. Aber letztlich gilt auch hier: Entschieden wird auf dem Platz.
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