„Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder!“ Dieser verkürzte Vers mit seinem wahren Kern von Johann Gottfried Seume ging in den Volksmund ein. Musik ist mehr als Klang, ist vielleicht eine eigene Sprache, öffnet vielleicht sogar eine zusätzliche Dimension der Verständigung. In jedem Falle birgt das gemeinsame Musizieren pädagogisches Potential, und selbst Kühe steigern ihre Milchproduktion bei Berieselung mit Mozart-Tönen.
„Now! Word Up!“, eine ambitionierte Konzertreihe der Philharmonie Essen, versucht jenseits des l‘art pour l‘art-Prinzips beziehungsreich Text und Musik unter dem Arbeitsmotto „Ist Musik eine Sprache?“ abzuklopfen. Und setzt dabei naheliegend auf die Begegnung von Musik und Sprache. Klassische Vertonungen literarischer Werke bieten da gängiges Ausgangsmaterial, Komponisten wie Henze und Nono haben Musik und Politik verflochten, Hans Werner Henze erklärte Musik zum Phänomen, das Mittel zur Aufklärung wie zur Verdummung sein kann. Luigi Nono vertonte aufklärerisch Briefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer. Verdummung dudelt als Massenware täglich über den Äther.
Extremsten Abstand zu letzterem wählt Now! 2016. Hier werden Klassiker der Moderne mit zeitgenössischen Werken und taufrischen Auftragskompositionen als Uraufführung kombiniert. Paradebeispiel gibt das Konzert der Neuen Vokalsolisten Stuttgart (5.11.) in der Philharmonie Essen. Dieses Ensemble kämpft seit drei Jahrzehnten für neue Klänge mit Stimmen, ihr surreal-witziges Programm heißt „Falsche Lieder“. Einen solchen Zyklus hat ihnen Gordon Kampe in die Kehlen komponiert. Klassiker von Berio und Aperghis begegnen hier einer Uraufführung eines Auftragswerks an Günter Steinke, hier wird das Klangpotential von Sprache und Stimmen neu ausgelotet.
Spezialisten des Orchesterklangs sitzen in den Reihen des Ensemble intercontemporain, das von seinem Chefdirigenten Matthias Pintscher geleitet wird und ein sensationelles Programm für Freunde der Neuen Musik präsentiert (11.11.). Als deutsche Erstaufführung interpretiert das Orchester aus Paris eine nächtlich-mythische Betrachtung des deutschen Komponisten Manfred Trojahn. Die als Singer/Neue-Musik-writer ausgebildete Agata Zubel singt ein eigenes Werk, und die Sopranistin Salomé Haller rezitiert/singt Schönbergs „Pierrot lunaire“.
Für solche Klangexpeditionen hat sich die Essener Philharmonie mit der Folkwang Universität der Künste, der Stiftung Zollverein und dem Landesmusikrat verbündet, entsprechend wechseln auch die Spielorte in diesem Zyklus. So zählt eine Clubnacht im Hotel Shanghai (12.11.) zum Programm, hier tritt Finna zum Poetry Slam an, das Quartett Neonschwarz macht Party und zeigt politisch Flagge.
Schlachtschiff dieser Konzertreihe dürfte die Aufführung der berühmten „Lucas-Passion“ sein (13.11.), die wiederum in der Philharmonie ihren Schöpfer Krzysztof Penderecki mit einbezieht. Trotz seines vorgerückten Alters – er feiert zehn Tage nach dem Konzert seinen 83. Geburtstag – scheut der schöpferische polnische Komponist und Dirigent keine Gelegenheit, sein 1966 geschriebenes Oratorium mit Solisten, Chören und Orchester erklingen zu lassen. Er selbst verbeugt sich dabei vor Bach: lebendige Musikgeschichte.
Info: www.philharmonie-essen.de
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