Die Klavierspielerin
Österreich/Frankreich 2001, Laufzeit: 130 Min., FSK 16
Regie: Michael Haneke
Darsteller: Isabelle Huppert, Benoît Magimel, Annie Girardot, Anna Sigalevich, Susanne Lothar, Udo Samel, Cornelia Köndgen, Rudolf Melichar, Philipp Heiss, Thomas Weinhappel
Dem gespreizten, überbordenden, schmerzend sarkastischen Stil des Musik-Psycho-Horror-Romans "Die Klavierspielerin" der Wiener Schriftstellerin Elfriede Jelinek ist mit gleichwertigen filmischen Ausdrucksmitteln kaum zu entsprechen. Um so erstaunlicher, wie Michael Haneke ("Funny Games"), österreichischer Filmemacher mit Faible fürs Obszöne, mit seiner Adaption die Geschichte auf ein Kino-Konzentrat zusammendampft, das eine ganz eigene Qualität gewinnt und den Begebenheiten sogar eine noch größere Stringenz verleiht.Da ist zunächst die Musik. Haneke nutzt die Chance des Filmemachers und gibt ihr auf der Tonspur die vom Text her legitimierte Rolle. Er lässt - neben anderen - ausgiebig Schumann und Schubert erklingen, mit dem Ergebnis, dass diese klangliche Ebene dem Drama der Hauptpersonen zusätzliche Wucht verleiht. Jelineks Sprachrausch ist auf weiten Strecken ersetzt durch die Wirkung der Musik. Schön, erhaben, tief melancholisch schwingt sie sich hinweg über die böse, perverse Unterwelt der realen Gefühle und Leidenschaften dieser zerissenen Menschen, die mit ihr zu tun haben. Todtraurige Melodien erklingen und öffnen erst recht die tiefen Wunden, die sich in ihren Seelen verbergen.Erika Kohut unterrichtet am Wiener Konservatorium Klavier. Sie, von der sich die tyrannische Mutter Solisten-Laufbahn und Weltruhm erhoffte, benutzt ihre hochgeschraubten Vorstellungen von kongenialer Interpretation, um ihre Schüler zu quälen und zu erniedrigen. Sie lebt noch bei der Mutter, die ihr seit jeher jedes eigene Wünschen und Begehren untersagt. Sexualität hat sie vollkommen abgespalten. Die stets korrekt gekleidete Mittdreißigerin erstickt, ohne es wahrzuhaben, an den gestellten Ansprüchen. Das Unterdrückte sucht sich ein Ventil in bizarren Lust-Ritualen, die sie einsam, selbstquälerisch und ohne jemals zur Befriedigung fähig zu sein, fast mechanisch vollzieht. Walter Klemmer, ein talentierter junger Mann, blond, weltoffen, von überbordender Lebenslust, macht sich zu ihrem Schüler, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, sie zu erobern. Er schmeichelt sich ein und unterstützt ihre hochgestochenen Auffassungen von Musikverständnis, will aber nur das Eine. Der stürmische Verehrer hat jedoch nicht mit den zwanghaft verfeinerten Sonderwünschen gerechnet, die sich hinter dem Wall an Wohlanständigkeit im verborgenen Sexualleben der bei der Mutter dahin vegetierenden Frau aufgehäuft haben. Wenn Erika Kohut eben noch auf einem Salonkonzert seine beflissene Zustimmung findet zu Adornos Würdigung von Schumanns verdämmernder C-Dur-Phantasie, so holt sie später unter ihrem Bett eine Kiste hervor, die ihm mit den darin enthaltenen metallenen und gummihaltigen Utensilien eine andere, dafür aber ziemlich eindeutige Richtung weisen. Die Arme, auch sie hat sich verliebt. Doch Lieben kann sie nur noch auf ihre schrecklich missbildete Weise. Das Gefühlsdesaster nimmt seinen Lauf. Aggression erfasst alle Beteiligten, unvermeidbar die gegenseitige Erniedrigung, das Zusammenbrechen aller bisherigen, auf schmaler Kruste künstlich aufrecht erhaltenen Kultiviertheit.Michael Haneke hat in seinem Drehbuch diese Konfrontation markant und kompromisslos umgesetzt. Minimale, aber vielsagende Änderungen der Schauplätze - zum Beispiel die Voyeurismus-Szenen statt in einem Park im Autokino spielen zu lassen - führten zu einer inhaltlichen Straffung, die diese perverse Amour fou um so eindringlicher wirken lassen. Seine ganze Umsetzung reisst selbstreflexiv die eigene Kunst und das ganze Feld der Musik - gleichsam als Kulturterror-Szenerie - mit in den Abgrund hinein, der sich in der Versehrtheit dieser seltsamen Liebenden auftut. Deren Darsteller Isabelle Huppert und Benoît Magimel ("Der König tanzt") erhielten für ihr hinreissendes Spiel die Hauptpreise beim Filmfestival in Cannes. Auch die französische Schauspiellegende Annie Girardot ("Rocco und seine Brüder", "Lebe das Leben") spielt die bösartig und erschreckend normale Mutterrolle so genial, dass einen wirklich das Grauen packt.
(Heinz Holzapfel)
Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Ein letzter Blick von unten
„Vom Ende eines Zeitalters“ mit Filmgespräch im Casablanca Bochum
Grusel und Begeisterung
„Max und die wilde 7: Die Geister Oma“ mit Fragerunde in der Schauburg Dortmund
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Kölner Filmpalast – Foyer 04/24
„Ich mag realistische Komödien lieber“
Josef Hader über „Andrea lässt sich scheiden“ – Roter Teppich 04/24
„Kafka empfand für Dora eine große Bewunderung“
Henriette Confurius über „Die Herrlichkeit des Lebens“ – Roter Teppich 03/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
Bezeugen, was verboten ist
NRW-Kinopremiere: „Green Border“ von Agnieszka Holland mit Vorgespräch
„Man kann Stellas Wandel gut nachvollziehen“
Jannis Niewöhner über „Stella. Ein Leben.“ – Roter Teppich 02/24
Konklave
Start: 21.11.2024
Emilia Pérez
Start: 28.11.2024
The Outrun
Start: 5.12.2024
Here
Start: 12.12.2024
Nosferatu – Der Untote
Start: 2.1.2025
September 5
Start: 9.1.2025
Like A Complete Unknown
Start: 27.2.2025