Enfant Terrible
Deutschland 2020, Laufzeit: 134 Min., FSK 16
Regie: Oskar Roehler
Darsteller: Oliver Masucci, Hary Prinz, Katja Riemann, Eva Mattes
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Überspitzter Blick auf Leben und Werk von Rainer Werner Fassbinder
Hasardeur der Filmkunst
„Enfant Terrible“ von Oskar Roehler
„Rainer, das wäre dann aber ein Achsensprung“, warnt der Kameramann. Aber Rainer scheißt auf Achsensprünge, genau wie sein Vorbild Jean-Luc Godard. Regeln interessieren ihn generell nicht. Mit Regelbrüchen sind sowohl Godard als auch Rainer Werner Fassbinder zu bedeutenden Protagonisten der Filmgeschichte geworden. Fassbinder, den man leicht auch den bedeutendsten deutschen Filmemacher nennen kann, war ein Autodidakt, der mit 16 Jahren die Schule abbrach und anfing, zu schreiben. Eine private Schauspielausbildung half ihm nicht, die staatliche Prüfung zu bestehen, auch die Filmschule wies ihn ab. Mit 20 Jahren begann er Kurzfilme zu drehen, stieß in München zum Action-Theater und gründete dann mit 23 Jahren sein eigenes antitheater. 1969, mit nur 24 Jahren, drehte er seinen ersten Spielfilm „Liebe ist kälter als der Tod“, mit dem zweiten Film „Katzelmacher“ gelang ihm schon im selben Jahr der Durchbruch – der Film gewann fünf Bundesfilmpreise. In den 13 Jahren bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1982 sollten fast vierzig Filme (und zwei Serien) folgen. Oft drehte er drei, mitunter auch sechs oder sieben Filme in nur einem Jahr. Bis Mitte der 70er Jahre realisierte Fassbinder außerdem knapp 20 Bühnenstücke, Anfang der 70er Jahre produzierte er zudem einige Hörspiele. Auch wenn er nur 37 Jahre alt wurde: Sein Werk folgte scheinbar dem Motto: Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Zum Vergleich: Oskar Roehler hat in den letzten 13 Jahren sieben Filme gedreht…
Oskar Roehler ist nicht Rainer Werner Fassbinder. Aber er ist ein großer Fassbinder-Fan. Und wie Fassbinder hat er einen Hang zum Extremen, zum Melodram, zur Theatralik. Das hat er mit Filmen wie „Agnes und seine Brüder“, „Lulu und Jimi“ oder zuletzt „HERRliche Zeiten“ bewiesen. Und deshalb funktioniert auch Roehlers Konzept, Fassbinders Leben und Arbeit in 134 Minuten als überdrehtes, melodramatisches Stück auf einer Theaterbühne mit teils gemalten Kulissen zu verfilmen. Oliver Masucci wütet neben Katja Riemann, Alexander Scheer, Eva Mattes, André Hennicke und vielen mehr als Fassbinders-Künstlerego häufig schreiend, oft betrunken oder zugekokst, mitunter wimmernd, aber zeigt auch den präzisen Denker, Intellektuellen und Künstler. Da ist viel Platz für das menschliche Arschloch, das auch in diesem Genie steckte. Aber auch viel Raum für seine sensible, zarte Seite, die man nicht zuletzt an den meisten seiner Filme ablesen kann.
Diese Widersprüche muss man aushalten, wenn man sich mit Fassbinders Leben und Werk beschäftigt, und Oskar Roehlers Annäherung lebt diese Widersprüche voll aus. Es beginnt gleich in den ersten Szenen, wenn er sich als Macher in München am Theater positioniert und den harten Kerl raushängen lässt. Gedemütigt hat der bisexuelle Künstler Männer wie Frauen, Mitarbeiter wie Freunde und männliche wie weibliche Geliebte. Arbeit und Privates lag bei ihm sowieso direkt beieinander. Am Anfang hat man sogar noch zusammen gewohnt, doch auch später konnte sich Fassbinder auf ein sehr stabiles Kernteam verlassen, zu dem Irm Hermann, Margit Carstensen, Hanna Schygulla, Peer Raben, Harry Baer, Kurt Raab, Ulli Lommel, Michael Ballhaus und viele mehr zählten.
Oskar Roehler fängt diesen sogenannten Fassbinder-„Clan“ in betont steifen Szenarien und gekünstelt ausgeleuchteten Szenen ein, die sowohl an Fassbinders Vorliebe für das Melodram aus Hollywood erinnern als auch an seine eigene, im Sinne von Camp (John Waters ist da auch nicht weit...) überzogene Version davon. Das gilt auch für die Figurenzeichnung. Man merkt, dass Oskar Roehler und Oliver Masucci großen Spaß haben, Fassbinder als sozial fragile Dramaqueen zu zeichnen, die zugleich sich und sein Umfeld permanent an die (zwischenmenschlichen) Grenzen bringt. Dazwischen gibt es viel grob Geschnitztes (Wilson Gonzales und der 63-jährige Ralf Richter als 77er-Punks), in der Karikatur geht auch die ein oder andere kreative Feinheit von Fassbinder unter. Wie er als Hasardeur seine Filmprojekte durchgezogen hat erlebt man allerdings auch auf beeindruckende Art. Das ist mitunter peinlich und schmerzhaft, nicht selten auch komisch und erinnert wohltuend an den Leitspruch des deutschen Filmmagazins „Revolver“: Kino muss gefährlich sein!
(Christian Meyer-Pröpstl)
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