Zweite Chance
Dänemark, Schweden 2014, Laufzeit: 98 Min., FSK 12
Regie: Susanne Bier
Darsteller: Nikolaj Coster-Waldau, Ulrich Thomsen, Frederik Meldal Nørgaard, Maria Bonnevie, Nikolaj Lie Kaas, Lykke May Andersen
>> zweitechance-derfilm.de
Atemberaubendes Thrillerdrama
Chaos
„Zweite Chance“ von Susanne Bier
Interview mit Hauptdarsteller Nikolaj Coster-Waldau
Regelmäßig kehrt die international renommierte Regisseurin Susanne Bier zurück in ihre Heimat Dänemark und inszeniert dort das eine oder andere Drama. Und das ist gut so. Die einstige Dogma-Vertreterin („Open Hearts“) ist nach ihrem über die Landesgrenzen hinaus gefeierten Erfolg „Brothers – Zwischen Brüdern“ von 2004 auf den Leinwänden der Welt unterwegs. Auch wenn sich Susanne Bier immer die zurückgenommene Inszenierung bewahrt hat und selbst in ihren Hollywood-Ausflügen („Eine neue Chance“, „Serena“) oder gar in einer romantischen Komödie wie „Love Is All You Need“ den Versuchungen des Pompösen und von Pathos entsagte und weiterhin jenseitsder Oberfläche zu berühren vermochte, ist und bleibt sie am stärksten, wenn sie nach Dänemark zurückkehrt. Davon zeugen ihre Filme „Nach der Hochzeit“ und „In einer besseren Welt“. Und davon zeugt auch ihr aktuelles Drama.
Eine folgenschwere Entscheidung
Bei einem Einsatz wegen Ruhestörung verschaffen sich Polizeikommissar Andreas (Nikolaj Coster-Waldau) und sein Kollege Simon (Ulrich Thomsen, „Adams Apfel“) Zugang in die Wohnung des vorbestraften Junkies Tristan (Nikolaj Lie Kaas) und dessen Partnerin Sanne (das dänische Model Lykke May Andersen). In der heruntergekommenen Wohnung finden die Männer auch das bitter verwahrloste Baby der beiden. Andreas, selbst liebender Vater eines kleinen Sohnes, entreißt das Baby seinen Eltern. Die Behörden aber geben es jenen schon bald zurück, da es gesund und ausreichend ernährt ist. Andreas ist entgeistert. Geborgenheit vor seinem Joballtag findet der junge Vater indes daheim bei seiner Frau Anna (Maria Bonnevie) und dem Nachwuchs. Dann aber plötzlich stirbt des nachts das Baby. Verzweifelt im Affekt trifft Andreas eine so tragische wie folgenschwere Entscheidung. Er fährt mit dem toten Kind zu Tristan und Sanne, die gerade ihren Drogenrausch ausschlafen, während ihr Kind unbeobachtet auf dem Kachelboden des Badezimmers liegt. Andreas dringt in die Wohnung ein und tauscht das lebende gegen das tote Baby aus.
Keine Angst, diese Kritik verrät nicht zu viel. Die Geschichte nämlich geht hier erst richtig los, und es kommt in diesem Drama noch so manches anders, als man denkt. Susanne Biers vertrauter Drehbuchautor Anders Thomas Jensen („Brothers“, „In einer besseren Welt“) entwickelte gemeinsam mit der Regisseurin das Skript. Erneut sucht Bier die alltägliche Ausgangslage. Zart inszeniert sie das Familienglück des Polizisten, bitter die Zustände in der Höhle der Junkies. Dann schlägt das Schicksal zu, der plötzliche Kindestot, und der eherne Gesetzeshüter und fürsorgliche Familienvater, den Nikolaj Coster-Waldau („Game of Thrones“) bravourös ungekünstelt als Sympathieträger verkörpert, begeht eine moralisch verwerfliche Untat. Eine Straftat, die den Zuschauer für den Rest des Films in Bann halten wird, weil sie nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheint. Anstatt nun die moralische Keule zu schwingen, biegt Jensens Geschichte ab und ummantelt das Drama mit einem Krimiplot. Und fährt im Folgenden noch zahlreiche Wendungen auf, die überraschen, die erschrecken und in deren Verlauf Andreas zunehmend die Situation entgleitet.
Susanne Bier inszeniert souverän. Dogma-Referenzen mag man wiederfinden in ihrer ungefälschten Darstellung des Milieus, in den schonungslos kargen, nüchternen Bildern. Zugleich aber greift sie bereits zu Beginn auf schmerzvoll warme Bildkompositionen zurück, die unter Einsatz von Musik zu elegischer Traurigkeit erwachsen. Susanne Bier schafft den Spagat und bewahrt dabei die Wahrhaftigkeit. Kaltes Milieu und tiefer Schmerz, Abgrund und Glück, Thriller und Melodram – die Filmemacherin liefert einen Spielfilm, der Arthousefreunde ebenso einzunehmen vermag wie Fans wendungsreicher Thrillerkost.
Was von Dogma übrig blieb
Lediglich die allerletzte, unnötig versöhnliche Szene irritiert. Bereits in „Love Is All You Need“ fütterte Susanne Bier am Ende ihr Publikum mit Informationen, nach denen der Film nicht verlangte. Derlei aufgesetzter Endschliff mag ein Überbleibsel aus Biers Schaffenszeit in den USA sein. Die Regisseurin beschert „Zweite Chance“ mitnichten ein weichgespültes Happy End, aber sie evoziert ein vermeidbares, finales Stirnrunzeln. Ein Ende, das jedoch das Gesamtwerk nicht zu trüben vermag. Zu stark, zu intensiv, zu echt, pur, klar und tief gestaltet sie ihre spannende Parabel über Moral, Selbstjustiz, Liebe und Gerechtigkeit. Ein Film, der anstößt und über den Kinobesuch hinaus nachdenklich stimmt. Und der lebt durch seine Bildsprache, durch die Darsteller und allem voran durch seine Nähe zum Leben. „Zweite Chance“ ist ein gelungenes Beispiel dafür, was von Dogma nach zwei Jahrzehnten übrig blieb. Eine reduzierte Inszenierung, die zugleich im richtigen Moment inspiriert auf etablierte, filmische Standards zurückgreift. Und die, ganz im Dogma-Sinne, mit einer Geschichte auffährt, die nur so strotzt vor Unmittelbarkeit.
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