Ein Besuch der fünftägigen Nordischen Filmtage in Lübeck, die einen in die neueren Produktionen der Filme aus dem skandinavischen Raum und dem Baltikum entführen, lassen fast die Illusion aufkommen, man befände sich gar nicht mehr auf deutschem Boden. Überall hört man skandinavische Töne, sei es im Hotel, auf den Empfängen, den Workshops oder in den Kinos. Aber auch die Filme selbst unterscheiden sich deutlich von den meisten deutschen Produktionen, die in der Regel recht fernsehlastig daherkommen. Ganz anders die Skandinavier, hier ist Kinogerechtheit erstes Gebot. Meist in Cinemascope gedreht, haben sie einen ausgeprägten Sinn für große Bilder mit Landschaftstotalen und Schauspielern, die hierzulande kaum jemand kennt, deren Leistungen aber immer wieder zu überzeugen wussten. So sind manche Filme zwar für den deutschen Kinomarkt thematisch schwierig, großes Kino waren sie aber dennoch fast alle.
Ein schönes Beispiel dafür ist zum Beispiel DIRCH, DER TRAURIGE CLOWN (Dirch) der die Lebensgeschichte des Komikers Dirch Passer, einer Art Jerry Lewis Dänemarks, Revue passieren lässt. Es beginnt mit dessen ersten Erfolgen in den Revuen der 50-er Jahre, in denen er große Erfolge mit seinem Partner Kjeld Petersen feiert, aber dennoch zu Selbstzweifeln neigt und von seinem Kollegen ermutigt werden muss. Seine Versagensängste kompensiert er mit Alkohol und schnell wechselnden Beziehungen zu Frauen. Schließlich beschließt er, sich im ernsten Fach zu versuchen und setzt gegen den Widerstand seiner Manager eine Inszenierung seines Lieblingsstückes „Von Mäusen und Menschen“ durch, mit ihm selbst in der Hauptrolle des naiven Mörders. Doch das Publikum will ihn nur als Komiker akzeptieren, das Stück wird ein Misserfolg. Ein weiterer Schicksalsschlag ereilt ihn, als sein Partner Petersen stirbt und nicht nur ein berufliches Loch hinterlässt, sondern auch einen emotionalen Anlaufpunkt und guten Freund. DIRCH überzeugt vor allem durch seinen grandios aufspielenden Hauptdarsteller, der alle Facetten eines nach außen hin mega-erfolgreichen, aber im Inneren von Selbstzweifeln geprägten Künstler zeigt, der seiner engen Rollenfestlegung überdrüssig ist und daran zu zerbrechen droht.
Ebenfalls vom Theater träumt Alex, der Held in Lena Koppels schwedischer Komödie DIE KUNST, SEINE SCHUHE ZU BINDEN (Hur manga lingon finns det i världen? Verleih: MFA). Er ist ein junger Mann, dem es schwerfällt, im Berufsleben Fuß zu fassen. Seine Theater-Ambitionen scheitern schon daran, dass er es einfach nicht schafft, pünktlich zu den Proben zu erscheinen. So fliegt er dort raus und findet sich im Arbeitsamt wieder, wo man für seine hochfliegenden Pläne ebenso wenig Verständnis hat wie daheim, wo seine Freundin und Mutter seiner kleinen Tochter es endgültig satt hat, sich um alles alleine zu kümmern und ihn einfach vor die Tür setzt. Etwas widerwillig greift er zur einzigen Job-Offerte, die man ihm anbietet: Die Betreuung einer Gruppe geistig behinderter Heimbewohner (allesamt von Laiendarstellern gespielt). Klar, dass er sich zunächst schwer tut mit seinem neuen Job, wo das Leben aus klaren Regeln besteht und das größte Ziel ist zu lernen, wie man sich seine Schuhe selber schnürt. Doch als Alex verborgene Talente in seinen Schützlingen entdeckt, beschließt er spontan die Gründung einer Theatergruppe und will diese sogar zu einem Talentwettbewerb im Fernsehen anmelden. Doch das geht den Eltern der Heimbewohner und der Heimleitung zu weit. Aber Alex will nicht aufgeben und kämpft zum ersten Mal um etwas, das ihm wirklich wichtig ist. Eine warmherzige Komödie mit ernstem Anliegen, die auf einer wahren Story basiert: der des schwedischen „Happy Huddik Theatre“, das heute internationale Erfolge feiert.
Ein Beispiel dafür, wie sich schwere Themen auch in beeindruckenden Bildern widerspiegeln war auch der dänische Beitrag VOLCANO (Eldfjall), der schon in diesem Jahr in der Quinzaine in Cannes gezeigt wurde. Regisseur Runar Runarsson erzählt hier von einem alten grantigen Mann namens Hannes, der bisher als Hausmeister in einer Schule arbeitet und nun in Rente geht. Der einzige Trost in seinem unerfüllten Leben ist die Fahrt raus aufs Meer, doch als sein Boot Leck schlägt, fesselt ihn das noch mehr ans Haus. Als dann noch seine Frau einen Schlaganfall erleidet, beschließt er, sie selbst zu pflegen und bäumt sich gegen sein Schicksal auf. Runarsson nutzt die wilde und gleichsam rohe wie kraftvolle Vulkanlandschaft Islands als Hintergrund für diese menschliche Tragödie, die von seinen Schauspielern beeindruckend dargeboten wird. Sein Film ist kraftvoll, sowohl auf visueller wie auf erzählerischer Ebene, und es gelingt ihm, kunstvoll Motive einzuflechten, die Themen wie Pflege und Euthanasie verhandeln, Themen, über die man nicht gerne spricht und deren gesellschaftliche Relevanz doch immer prekärer wird.
Ebenfalls schon in Cannes zu sehen war OSLO, 31. AUGUST von Joachim Trier, der zwar an einem Sommertag spielt, bei dem es aber eher düster zugeht. Es ist sein zweites Werk nach seinem Aufsehen erregenden Debüt REPRISE – AUF ANFANG . Die poetisch wilde Mischung aus Kunstfilm und Coming-of-Age-Drama einer Twentysomething-Generation wurde damals von Kritikern als „Antonioni auf Amphetamin“ gefeiert. Der Nachfolger wäre dementsprechend nun eher „Bresson auf Barbituraten“. Eine reduzierte, stellenweise fast dokumentarisch anmutende Form, angefüllt mit einer entrückten Schwere und Melancholie, die dennoch fesselt und berührt. Anders ist gerade nach jahrelanger Drogenabhängigkeit aus der Reha entlassen worden, um nun erste Schritte zurück in die Gesellschaft zu machen, doch eigentlich hat sich seine seelische Verfassung nicht gebessert. Dabei hat der Mittdreißigjährige theoretisch noch immer alle Möglichkeiten, große Begabungen und einen wachen Verstand. Im Laufe des Tages trifft er seine alten Freunde wieder, erinnert sich mit ihnen an vergangene Zeiten und entlarvt ihre mittlerweile spießigen Existenzen als künstlich und leer. Als er bei einem viel versprechenden Vorstellungsgespräch nach den Lücken in seinem ansonsten beachtlichen Lebenslauf gefragt wird, resigniert er schließlich vollkommen und lässt sich an diesem letzten Sommertag durch die Stadt treiben, wissend, dass ein Neuanfang ihm nichts bieten könnte, was ihn glücklich macht. Joachim Trier gelingt damit erneut vor allem eine präzise Milieustudie; treffend entwirft er eine Tragödie des Mittelstandes, ohne zu psychologisieren oder einfache Erklärungen zu liefern. So kann man die Gründe für seine existenzielle Krise, die ein bisschen an den „Fänger im Roggen“ erinnert, durchaus nachvollziehen, ohne dass sie explizit genannt werden müssen. Die Verlogenheit des Erwachsenendaseins, die unerbittlichen Mühlen der Arbeitswelt und das Gefühl, seine Unschuld für immer verloren zu haben, verfolgen den jungen Mann ebenso, wie die Befürchtung das eigene Leben unwiderruflich vertan zu haben. Die Anrufe bei der geliebten Exfreundin bleiben unbeantwortet, die Schwester will ihn nicht sehen und schließlich ist Anders verschwunden – zurück bleiben die leeren Räume und ein nachhaltiges Gefühl von Betroffenheit, sowie die Gewissheit, dass man von diesem Regisseur noch einiges hören und sehen wird.
Wesentlich oberflächlicher, dafür aber der Publikumsliebling der diesjährigen Filmtage, war die turbulente dänische Komödie SUPERCLASICO, in der der Kopenhagener Christian von seiner Frau Anna für den argentinischen Fußballstar Juan sitzen gelassen wird. Doch anstatt die Scheidungspapiere zu unterschreiben, reist Christian samt Sohn nach Buenos Aires, um seine Frau zurückzuerobern. Dabei irrt der tapsige Däne durch das Straßenlabyrinth von Buenos Aires, kommt mit Fußball-Fanatikern in Konflikt und lernt viel über ein ihm völlig unbekanntes Geschlechterverhalten. SUPERCLASICO war der größte Kassenschlager des vergangenen Sommers in Dänemark und könnte auch hierzulande ein kleiner Erfolg werden, zumal die Darsteller frei aufspielen, Anders Berthelsen als Christian einen umwerfend komischen dänischen Durchschnittsmann gibt und seine kongeniale Partnerin Paprika Steen, hierzulande schon aus einigen Filmen (Idioten, Das Fest, Adams Äpfel u.v.a.) bekannt ist.
Eine interessante Mischung aus skandinavischen und deutschen Elementen zeigte die schwedisch-deutsche Koproduktion SIMON (Farbfilm Verleih) von Lena Olin. Das opulente Epos nimmt sich des gleichnamigen Bestsellers von Marianne Fredriksson an und blättert eine mehrere Jahrzehnte umfassende Familiengeschichte auf. Diese beginnt an der Küste Göteborgs im Schatten des Zweiten Weltkriegs und wird als Rückblick aus der Perspektive des Jungen Simon erzählt, der zu Beginn noch ein kleiner Junge ist. Das zarte Kind hängt am liebsten auf seinem Lieblingsbaum, einer Eiche, seinen Träumen nach und bemüht sich nach Kräften, den Versuchen seines Vaters, aus ihm einen ordentlich zupackenden Handwerker zu machen, zu entkommen. Schließlich setzt er durch, auf eine weiterführende Schule gehen zu können. Dort freundet er sich mit einem jüdischen Jungen an, dessen Familie ihm eine völlig neue, großbürgerliche Welt voller Kunst und Kultur eröffnet. Doch dann gibt es da noch ein Geheimnis, von dem er selbst nicht einmal etwas ahnt... Schwedische und deutsche Stars wie Bill Skarsgård, Jan Josef Liefers und Katharina Schüttler spielen hier Hand in Hand und zeigen, welche beeindruckende Filme möglich sind, wenn unsere herausragenden Schauspieler einmal den engen Rahmen ihrer Fernsehformate verlassen und in brillant fotografierten Bildwelten brillieren können. Ein packendes und zu Herzen gehendes Werk, für das Liefers schwedisch lernen musste.
Mit wunderschönen Landschaftsaufnahmen wartete auch der schwedische Beitrag KÜSS MICH (Kyss mig) auf, der eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen zum Thema hat, erstaunlicherweise ein Novum im schwedischen Film, der bislang nur Lukas Moodyssons Publikumsliebling „Fucking Amal“ über die Liebe zweier Teenager zu diesem Thema hervorbrachte. Die Liebe trifft hier die beiden Mittdreißiger Mia und Frida wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf einer Familienfeier. Eigentlich ist Mia gekommen, um ihrem Vater von ihrer Verlobung mit ihrem langjährigen Freund Tim zu berichten. Doch kaum verkündet, wird ihr Frida vorgestellt, die Tochter der neuen Verlobten ihres Vaters. Zwischen den Frauen entbrennt eine leidenschaftliche Liebe, die beide jedoch geheim halten, da Mia sich nicht entscheiden kann, mit ihrem bisherigen konventionellen Leben an der Seite ihres beruflich erfolgreichen Freundes, den sie ebenfalls liebt, zu brechen. Doch die Situation wird für Frida immer unhaltbarer und Mia muss sich entscheiden. Elegant inszeniert, versieht Regisseurin Alexandra-Therese Keining ihrem ersten Langfilm mit berauschenden Bildern schwedischen Sommerlandschaften und weich gezeichneten Liebesszenen, die vielleicht sogar teilweise ein wenig zu schön daherkommen. Dennoch ein engagierter Beitrag zu einer Liebe jenseits der Konventionen, der auch die Reaktion der Familie mit in den Blick nimmt. So ist Mias Vater nur so lange liberal, wie es seinen eigenen Nachwuchs nicht betrifft, und auch er hat einen schwierigen Lernprozess vor sich.
Aber auch für junge Zuschauer hielten die Nordischen Filmtage interessante Filme bereit. Einer der kraftvollsten war die schwedisch-finnische Koproduktion DU FEHLST MIR; DU FEHLST MIR! (Jag saknar dig) von Anders Grönros. Das Teenager-Drama befasst sich mit dem Thema Trauerbewältigung und wurde dafür mit dem Kinder- und Jugendfilmpreis des Festivals bedacht. Das große Plus der Literaturverfilmung eines Bestsellers von Peter Pohl ist das intensive Spiel der Zwillinge Erika und Hanna Midfjäll, die im Film die Zwillingsschwestern Tina und Cilla verkörpern. Während Tina rebellisch daherkommt und viel Wert auf ihr Aussehen legt, ist Cilla braver und konzentriert ihre Leidenschaft mehr auf ihr Herzensprojekt, ein Theaterstück, das sie zugunsten hungernder Kinder in der Dritten Welt inszeniert. Dennoch verstehen sich die beiden Schwestern gut und helfen sich gegenseitig über die Klippen der Pubertät. Doch eines Tages wird Cilla auf dem Schulweg von einem Auto überfahren und stirbt. Der Schock ist für Tina überwältigend. Immer wieder füllt sie ihr Tagebuch mit dem Satz „Du fehlst mir!“ und findet nur schwer ins Leben zurück. Erst als der Rocksänger Ailu, den Cilla kurz vor ihrem Tod als Komponisten für ihr Stück gewinnen wollte und in den sie sich verliebt hatte, Tina bittet, einen Song, den er für Cilla geschrieben hatte, auf der Geige zu begleiten, beginnt sie aus ihrer Erstarrung zu erwachen und Schritt für Schritt ins Lebens zurückzukehren. Atmosphärisch dicht und emotional packend versteht es Regisseur Andres Grönros die Trauer Tinas nachvollziehbar zu machen, auch dank der schauspielerisch herausragende Leistung seiner jugendlichen Protagonistinnen.
Doch nicht nur düstere Stoffe erblickten in Lübeck das Licht der Leinwand, es gab auch durchaus Heiteres. Gleich zu Beginn machte der Auftaktfilm HAPPY HAPPY (Sykt lykkelig, Verleih: MFA) aus Norwegen seinem Namen alle Ehre. Hier wird das scheinbar beschauliche Landleben eines norwegischen Pärchens ordentlich durcheinander gewirbelt, als ins Nachbarhaus ein weiteres Ehepaar einzieht und die Risse in der Fassade des Familienidylls sichtbar macht. Denn während die Neuankömmlinge Elisabeth und Sive verliebt und entspannt daherkommen, ist bei Katja und Eirik schon mal Streit angesagt: etwa wenn Eirik sich mal wieder dem Sex entzieht mit der Bemerkung, seine Gattin sei einfach nicht attraktiv genug und lieber mit seinen Kumpeln lieber zur Jagd geht. Als die frustierte Ehefrau die Gelegenheit beim Schopfe packt und sich auf eine Affäre mit ihrem neuen Nachbarn einlässt, schlägt Eirik zurück und versucht ebenfalls anzubändeln – doch nicht mit Elisabeth, sondern mit Sive. Allmählich dämmert es Katja, warum es in ihrer Ehe vielleicht nicht stimmt. Was ein Drama sein könnte, wird hier mit Leichtigkeit und viel Charme präsentiert – ein bisschen Tragik, viel Humor, und mit einem überaus sympathisch aufspielenden Schauspielerensemble. Norwegen traut dem Film sogar einen Oscar zu und schickt ihn in das Rennen um den besten ausländischen Film.
Ebenfalls heiter kam der TÜTENBIERROMAN (Pussikaljaelokuva) daher, in dem der berühmtesten Abhänger-Crew Helsinkis gehuldigt wurde. Bekannt wurden sie nach dem Erscheinen des gleichnamigen Romans Mikki Rimminens, der seinen drei Helden Marsalkka, Henninen und Lihi 2007 ein Denkmal setzte. 24 Stunden lang streunen die drei durch die Straßen, Parks, Cafés und Kneipen der finnischen Hauptstadt und klopfen allerlei derbe Sprüche. Dabei lassen sie kaum ein Thema aus, das Mittzwanziger wie sie interessiert – von Frauen bis Drogen. Arbeit vermeiden sie, wo sie nur können, ärgern lieber die Polizei oder Fahrkartenkontrolleure. Das Ganze wird gewürzt mit finnischem Humor und schlagfertigen Dialogen – ein Kontrapunkt zur sonstigen eher schwereren Kost des Festivals.
Zu diesen Abhängern könnte sich auch gut Jarle aus dem Film ICH REISE ALLEIN (Jeg reiser alene; Neue Visionen) gesellen, allein er lebt in Norwegen, ist Student der Literaturtheorie und fühlt sich zwischen Partys und Affären pudelwohl. Doch das unbeschwerte Studentenleben bekommt ganz schön Schieflage, als acht Jahre nach einem One-Night-Stand, dessen Resultat vor seiner Wohnungstür steht. Eine ganze Woche inklusive ihres Geburtstages soll Charlotte Isabelle mit ihrem Vater verbringen, weil ihre Mutter, eine Supermarktangestellte, mal eine Auszeit braucht. Aber nicht nur Jarles Begeisterung über den unerwarteten Erziehungsauftrag hält sich in Grenzen, auch Charlotte Isabelle rümpft ganz schön die Nase, als sie die Studentenbude ihres Vaters inspiziert. Kurzerhand stellt sie sein ganzes Leben auf den Kopf und während Jarle sich noch gegen ihr kindliches Temperament wehrt, wächst sie ihm derart ans Herz, dass ihm längst klar ist, dass sein ehemaliges Leben endgültig vorbei ist. Regisseur Stian Kristiansen erzählt all dies mit leichter Hand in einer flotten Komödie verpackt, die mit einem fantastischen Soundtrack aufwartet. Dabei verbleibt er aber nicht an der Oberfläche, sondern taucht ab in eine moderne Patchwork-Familie und geht Themen wie Liebe und Verantwortung auf den Grund.
Von den Auswirkungen der Globalisierung bis hin nach Finnland erzählt DER HAUSSEGEN (Kotirauha) von Aleksi Mäkelä, der von Sami Luoto, einem finnischen Immobilienunternehmer berichtet. Seine Geschäfte laufen schlecht: sein jüngst fertig gestelltes Objekt lässt sich nicht vermakeln, ein neues Projekt gar nicht erst finanzieren. Als die Bank weitere Kredite verweigert, ist er quasi Bankrott. Davon ahnen weder seine Frau noch Tochter etwas, noch sein älterer Bruder oder sein erfolgreicher Vater, denn Sami behält seine Probleme für sich – auch vor seinen Arbeitern, von denen er schließlich immer mehr entlassen muss. Als einer von ihnen aus Rache einen Schläger engagiert und ihn verprügeln lässt, will ihn Samis Schwager Jere rächen, schießt dabei aber weit übers Ziel hinaus... Der finnische Regisseur Aleksi Mäkelä zeigt die Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf eine Familie in Form eines dramatischen Thrillers, der die Verzweiflung der Akteure hautnah miterleben lässt. Immer mehr verstrickt sich Sami in ein Geflecht von Lügen, bis er die Realität nicht mehr verdrängen kann und die Situation fast in einer Katastrophe mündet. Bei aller Gesellschaftskritik vergisst Mäkelä aber auch den Humor nicht, der, wie für den finnischen Film typisch, eher von der trockenen Sorte ist.
Abräumer des Festivals war jedoch Dennis’ Magnussons KING OF DEVIL’S ISLAND (Kongen av Bastoy, Alamode Film). Das düstere Drama aus Norwegen greift einen tatsächlichen Fall aus dem Jahre 1915 auf. Damals rebellierten die Insassen einer Erziehungsanstalt auf der Insel Bastoy im Fjord vor Oslo, bis das Militär einschreiten musste. Magnusson beleuchtet nun die möglichen Hintergründe der damaligen Geschehnisse. Dabei bedient er sich der Perspektive des neuen Zöglings Erling, der als 17-jähriger in die Anstalt kommt und sich dort den strengen Regeln von Heimleiter Hakon unterwerfen muss. Schnell erkennt er, dass die Jugendlichen als billige Arbeitskräfte missbraucht werden, schlimmer noch, einige von ihnen werden vom Hausmeister der Anstalt mit Wissen der Heimleitung sexuell missbraucht. Doch jegliches Aufbegehren wird mit einem sadistischen Bestrafungssystem geahndet. Erling entschließt sich zur Flucht, die zunächst zwar gelingt. Doch nach einigen Tagen wird er aufgegriffen und zur Insel zurückgebracht. Aber Erlings Wille ist nicht gebrochen. Marius Holst inszeniert sein packendes Drama vor dem Hintergrund der beeindruckenden norwegischen Insellandschaft, deren winterliche Kälte dem Sujet des Films kongenial entspricht. Ein Blick in die Abgründe der Seele eines unerbittlichen Systems, an dessen Spitze Stellan Skarsgard als zynischer Heimleiter gewohnt souverän agiert. Doch auch Benjamin Helstad als rebellischer Erling trägt zum Gelingen dieses Films bei, der bereits auf der Filmkunstmesse Leipzig Aufsehen erregte, beim Filmfest Hamburg den Publikumspreis erlangte und nun sowohl den Filmpreis der Nordischen Filmtage als auch den Publikumspreis der Lübecker Nachrichten auf sich vereinen konnte.
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