Bisweilen gibt es Beiträge in Kunst, Literatur und Film, die die NS-Zeit nicht in Guido Knopp-Manier aufarbeiten und dennoch dabei die Schwere des Themas beachten. „Der Nazi & der Friseur“ ist so ein Beispiel. Hilsenraths Groteske wurde in Deutschland zunächst nur schwerlich aufgenommen, erfuhr dann jedoch die Würdigung von renommierten Literaturkritikern. Würdigung erfährt in Lünen der Beitrag von Franziska Schlotterer „Ende der Schonzeit“. Brigitte Hobmeier, bekannt aus „Die Hebamme“, Christian Friedel, der besonders seit „Das weiße Band“ von sich reden macht sowie Hans Jochen Wagner vom Düsseldorfer Schauspielhaus liefern sich in dem Drama eine gefährliche und ungewöhnliche ménage à trois, in der alle Beteiligten Schuld auf sich laden: 1942 - Der raubeinige Fritz bewirtschaftet mit seiner Frau Emma einen Hof im Schwarzwald. Überschattet wird diese bukolische Idylle nur von der Impotenz Fritz‘, der jedoch auf einen Stammhalter angewiesen ist. Beim Wildern gabelt er den Juden Albert auf, der versuchte sich zur Schweiz durchzuschlagen. Fritz nimmt ihn auf, versteckt ihn, gibt ihm Arbeit, bis ihm die Idee kommt, dass Albert ihm einen Erben zeugen soll. Denn „wenn eine Kuh kalben soll, dann führt man den Bullen zur Kuh“. Aus den Zwangsgeschlechtsakten entwickeln sich Gefühle: Eifersucht, Leidenschaft, Angst. Franziska Schlotterer spinnt um diese Geschichte, die sie in einem Zeitungsbericht gelesen hatte, ein emotional dichtes Schauspiel, in der die Protagonisten um Fragen der Moral ringen und Jahre später ihr schützendes Schweigen brechen müssen. Das Publikum in Lünen war von dieser Leistung beeindruckt und wählte „Ende der Schonzeit“ zur Gewinnerin des Hauptpreises Lüdia, der mit 10.000€ dotiert ist.
Abräumen konnte in Lünen auch die Dokumentation „Vergiss mein nicht“, die den Preis für Frauen in der Filmbranche, die „Perle“, sowie den Preis für das beste Drehbuch gewann. Intim und dabei sehr respektvoll porträtierte David Sieveking das Verschwinden seiner Mutter aus dieser Welt. Da seine Mutter Gretel an schwerer Demenz leidet, zieht er wieder zu ihr, um ihre Pflege zu übernehmen. Doch nicht nur Gretel bekommt die Pflege ihres Sohnes, auch David wird von der nicht schwinden wollenden Lebenslust seiner Mutter angesteckt. Die Jury schätzte David Siekings Aufarbeitung seines Filmmaterials, das eine spannende Geschichte voller Intimität erzählt, ohne dabei reißerisch und würdelos zu sein.
Ebenfalls zwei Auszeichnungen heimste der Psycho-Thriller „Du hast es versprochen“ ein. Die Jury 16+ und die Jury für die beste Filmmusik vergaben für den dramaturgisch gekonnten Aufbau und den Einsatz der musikalischen Elemente ihren Preis. Der Berndt-Media-Preis für den besten Filmtitel, der im letzten Jahr den Überraschungshit „Dicke Mädchen“ belohnte, ging diesmal an den regional angesiedelten Spielfilm „Abseitsfalle“. In dem Arbeiterdrama kämpfen Beschäftigte des Werkes Perle gegen das soziale Abseits, in welches der amerikanische Mutterkonzern sie mittels drastischer Kürzungen drängt. Ein Schelm, wer dabei an die Opel-Werke denkt…
Verleihung des Berndt-Media-Preises. Foto: Presse.
Weitere Preise gewannen die Filme „Das Millionenrennen“ von Christoph Schnee, „Trommelbauch“ von Arne Toonen, „I have a Boat“ von Nathan Nil und „Another Fucking…“ von Katharina Marie Schubert. Der Kinder-und Jugendfilmpreis Rakete ging an den Film „Die Vampirschwestern“, der Ende des Jahres in den deutschen Kinos anläuft. Insgesamt kann das Kinofest Lünen zufrieden sein, sowohl mit den mutigen Filmbeiträgen als auch mit dem Besucherandrang von 8000 Gästen, der seinerseits die Arbeit des Kinofestes auszeichnet.
Das nächste Kinofest Lünen findet vom 21.-24. November statt.
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