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Regisseur Alexander Sokurow (FAUST) mit dem Goldenen Löwen

So gut wie lange nicht

20. Oktober 2011

68. Filmfestspiele in Venedig - Festival 09/11

Mit der Vergabe des Goldenen Löwen an Aleksander Sokurows Film Faust ging Venedig mit einer echten Überraschung zu Ende, denn kaum jemand hatte die eigenwillige Adaption von Goethes Roman als löwenverdächtig eingestuft. Die Jury setzte damit ein deutliches Signal für die Filmkunst. Irgendwie passend in einem Jahr, in dem das Programm von bekannten Namen nur so strotzte und sich die Stars die Klinke in die Hand gaben. Sokurow setzte bei der Pressekonferenz der Preisträger noch einen drauf mit der Behauptung: „Nicht die Filme brauchen Zuschauer, sondern die Zuschauer die Filme!“. Eine etwas gewagte These angesichts des Glamours und Kommerzes, dem diese Festivalausgabe frönte, und eine willkommene Dissonanz, über die es sich nachzudenken lohnt.

Sokurow verband seine These mit einem Appell an Politik und Privatwirtschaft, die beide gleichermaßen die Filmkunst fördern müssten. Er berichtete, dass er für seinen Film Monate durch Deutschland gereist sei, aber nur wenig Geld auftreiben konnte. Die Deutschen haben eine großartige klassische Kultur, doch anscheinend interessiere sich kaum jemand mehr dafür.

Faust ist für Sokurow der Abschluss seiner Tetralogie über mächtige Staatsmänner - Taurus (1999), Moloch (2000) und Solntse (2005) heißen seine Filme über Hitler, Lenin und den japanischen Kaiser Hirohito – in dem jede Menge deutsche Schauspieler mitspielen, denn der Film ist in deutsch gedreht, was ihm sehr wichtig war. Sensationell sind vor allem aber seine großen Bilder im Kleinformat, denn Sokurow hat im quadratischen Normalformat gedreht und dennoch eine Bildsprache gefunden, die einen erschaudern lässt. Mit fahlen Farben malt er ein rattenverseuchtes mittelalterlich anmutendes deutsches Dorf, in dem man meint, den ganzen Unrat ständig riechen zu können. Nur Gretchen, die hier Margaret heißt, ist der einzige Lichtblick, für den sich Faust mit dem Teufel, einer ziemlich mickrigen Gestalt, der die monströse Normalität des Bösen signalisiert, verbündet.

Mit diesen Bildern vergleichen lässt sich Andrea Arnolds Wuthering Heights, die ebenfalls im Normalformat gedreht hat und auf leuchtende Farben verzichtete. Auch ihr Film ist eine ausgesprochen eigenwillige Adaption eines großen Romans, und auch sie kümmert sich nicht um den vermeintlichen Publikumsgeschmack. Ihr Protagonist Heathcliff, der von einem Yorkshire Hill Farmer von der Straße aufgelesen und mit an seinen Hof gebracht wird, ist hier ein farbiger Junge, und so schwingt, sowohl bei der sich zur Liebe entwickelnden Beziehung zur Tochter des Hauses, wie auch beim Hass zum Sohn des Hauses, ein gewisser Rassismus immer wieder mit. Doch ganz im Gegensatz zu ihren bisherigen Filmen ("Red Road" und "Fish Tank"), die immer sozialkritisch angelegt waren, geht es Arnold hauptsächlich um die Liebesgeschichte, die nicht sein kann oder darf. Sie hüllt sie, ähnlich wie Sokurow, in düstere, kraftvolle und archaische Bilder, die dieser Liebe eine ganz eigene Dimension geben. So tollt das Liebespaar nicht auf saftig grünen Wiesen, wie wir sie mit England verbinden, sondern im Morast wie bei Lady Chatterley. Für seine Arbeit wurde ihr Kameramann Robbie Ryan ausgezeichnet.

Den Drehbuchpreis erhielt der griechische Film Alpis. Yorgos Lanthimos erzählt hier von zwei Krankenpflegern, einer Bodenturnerin und ihrem Coach, die sich zu einer Gruppe namens Alpis (der Anführer heißt Mont Blanc) zusammengeschlossen haben, um einer ungewöhnlichen Nebentätigkeit nachzugehen. Die Crew bietet Trauernden gegen Geld an, in die Rolle des verstorbenen Familienmitglieds zu schlüpfen und dieses für eine Weile weiter zu spielen, so lange, bis die Trauernden sich mit dem Tod ihrer Angehörigen abgefunden haben. So schlüpft die Bodenturnerin zum Beispiel in die Rolle der Tennis spielenden Tochter, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Allmählich verwischen sich jedoch die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit, die junge Frau findet nur noch schwer aus ihrer Rolle hinaus und nistet sich immer mehr im Leben ihrer Ersatzfamilie ein. Diese an sich originelle Drehbuchidee wird von der spröden, karg inszenierten Umsetzung ein wenig geschmälert und macht dem Zuschauer den Zugang nicht immer leicht, dennoch ein interessanter Beitrag aus einem Land, das erfreulicherweise einmal mit positiven Schlagzeilen von sich reden macht. Nach Athina Rachel Tsangaris „Attenberg“ ein weiteres kraftvolles Lebenszeichen des griechischen Films.

Der Silberne Löwe für die Beste Regie ging an den ‚film sorpresa’, der traditionsgemäß erst kurzfristig ins Programm gehoben wurde. Das macht immer dann Sinn, wenn eine Ankündigung des Films eher Nachteile mit sich bringt, wie es im Falle von Cai Shangjuns People Mountain People Sea sicher gewesen wäre, denn der chinesische Regisseur hat seinen Film gar nicht der Zensurbehörde vorgelegt und damit keine Genehmigung der Regierung, den Film im Ausland zu zeigen. Dass er die wohl auch kaum bekommen hätte, ist schon nach der Anfangssequenz klar, die einen äußerst brutalen Raubmord zeigt, nur um an das Motorrad des Opfers zu kommen. Als die polizeilichen Ermittlungen im Sande verlaufen, macht sich der Bruder auf die Suche nach dem Täter, die zu einem Rachefeldzug wird, der ihn durch ein desolates Land führt, das zerrissen ist zwischen alten kollektiven Idealen und einem Neokapitalismus, der in halbdokumentarischen Bildern aus illegalen Minen u.a. industriellen Verwüstungsformen mündet. Soviel Mut ist dann schon einen Löwen wert, auch wenn dem Regisseur dafür zumindest Berufsverbot in der Heimat droht.

Fünf Jahre Berufsverbot hatte auch Lou Ye bekommen, als er 2006 SUMMER PALACE ohne Genehmigung in Cannes zeigte. Auch er war mit seinem neuen Film LOVE & BRUISES, den er komplett im Ausland realisierte, in einer Nebensektion des Festivals zu sehen. Die junge Chinesin Hua folgt hier ihrem französischen Lover nach Paris. Dort angekommen, will der aber nichts mehr von ihr wissen und so geht sie mit einer Zufallsbekanntschaft eine ungewöhnliche sexuelle Beziehung ein, die zwischen Obsession und Hörigkeit pendelt. Wenn Hua am Schluss wieder nach China zurückkehrt, stellt sich heraus, das hier ein Mann auf sie wartet, der sehr viel besser mit ihr umgehen würde, doch nach emanzipatorischen Fragen zur Rolle der Frau in China sucht man hier vergeblich, denn Lou Ye ist wie schon in SUMMER PALACE mehr auf das Körperliche fixiert. Das Handeln der jungen Frau ist für westliches Verständnis selten schlüssig und geht bestenfalls als ‚amour fou’ durch. Für Lou Ye ist es das Porträt einer jungen Frau zwischen verschiedenen Menschen, verschiedenen Kulturen, verschiedenen Systemen, aber auch zwischen Liebe & Sex und Gewalt & Zärtlichkeit, eben zwischen Love & Bruises.

Wenig Sorgen um seine Publikumswirksamkeit muss man sich bei Roman Polankis Der Gott des Gemetzels (Constantin) machen. Das Bühnenstück von Yasmina Reza feierte weltweit Erfolge. Sehnsüchtig wurde nun der Verfilmung mit Starbesetzung – Jodie Foster, Kate Winslet, John O’ Reilly und Christopher Waltz - auf dem Lido entgegengefiebert. Und der Altmeister enttäuschte nicht, glänzte mit einer wunderbaren Umsetzung des mit geschliffenen Dialogen gespickten Stoffes um zwei Ehepaare, die sich nach einer Schlägerei ihrer Söhne treffen, um die Angelegenheit gütlich zu regeln. Wer das Stück kennt, weiß, das dies anfangs zu glücken scheint, am Ende aber ausartet – zum Vergnügen der Zuschauer, die fasziniert verfolgen können, wie Polanski genüsslich hinter die Fassade der bürgerlichen Mittelschicht blickt und diese mit einer furios auftrumpfenden Schauspieler-Crew entlarvt.


Schauspielerin Kate Winslet (Gott des Gemetzels) gibt Autogramme

Doch wieder zurück zu den Löwen: Emanuele Crialeses Terraferma legte nach GOLDEN DOOR eine weitere Einwanderungsgeschichte vor, jedoch aus umgekehrter Perspektive erzählt. Auf einer verträumten süditalienischen Insel werden die Bewohner, die vom Tourismus und ein wenig Fischfang leben, eines Tages mit der brutalen Wirklichkeit konfrontiert. Illegale afrikanische Einwanderer werden an die Urlaubsstrände gespült und die Fischer treffen auf dem Meer auf überfüllte Boote mit verdurstenden Flüchtlingen, denen sie nicht helfen dürfen, weil es das Gesetz verbietet. Crialese erzählt die Geschichte aus der Sicht aller Beteiligten, insbesondere auch der einer afrikanischen Mutter, die jede Todesgefahr auf sich nimmt, um das Überleben ihres Kindes zu sichern. Ausgesprochen sympathisch gelingt es Crialese, ein brisantes Thema italienischer Tagespolitik emotional bewegend in einer Art Familiengeschichte zu erzählen. Er engagiert sich für mehr Menschlichkeit und Anteilnahme am Schicksal des anderen. Geschickt bricht er das politische Thema auf die persönliche Ebene herunter und bleibt dabei stets nachvollziehbar. Das hat wohl auch die sehr cineastisch fixierte Jury beeindruckt, die dafür den Spezialpreis der Jury springen ließ.

Beeindruckend war auch die schauspielerische Leistung von Michael Fassbender, der die Hauptrolle in Steve McQueens Shame spielte, für die er mit der Coppa Volpi ausgezeichnet wurde. Eine Auszeichnung, die ihm schon für "Hunger" zugestanden hätte, ebenfalls ein Film Steve McQueens, in dem er die Hauptrolle spielte. Hier verausgabt er sich als Sexsüchtiger, der zwar erfolgreich im Job ist, sein Privatleben aber nicht in den Griff bekommt. Von sexuellem Verlangen gesteuert, stolpert er von Affäre zu Affäre, die nie länger als eine Nacht halten und dies - so macht er sich vor – sei auch gut so. Erst als seine labile, selbstmordgefährdete Schwester plötzlich auftaucht und bei ihm einzieht, gerät sein Kosmos aus den Fugen und seine One-Night-Stands immer mehr zu zwanghaften, akrobatischen Akten, die nur noch eine große Leere statt Befriedigung hinterlassen. Meisterhaft gelingt es Fassbender, diese Leere und die zunehmende Verzweiflung körperlich fühlbar zu machen. Ein grandioser Kraftakt mit leichten Anklängen an "American Psycho".

Fassbender spielte auch die Rolle des C.G. Jung in David Cronenbergs Eine Dunkle Methode und durfte als Widersacher Siegmund Freuds (Viggo Mortensen) Keira Knightley, die die gemeinsame Patientin und Muse Sabrina Spielrein spielt, den blanken Po versohlen. Das konventionell erzählte Biopic erzählt die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse mit leicht skeptischem Blick auf die beiden Wissenschaftler, deren Eitelkeit gelegentlich über ihre Wissenschaftsgläubigkeit triumphiert. Angesprochen auf seine Arbeit erzählte Cronenberg, dass er immer schon Biopics gemacht hätte, M. BUTTERFLY, "Naked Lunch" und sogar "Spider" zählt er dazu und liebt an ihnen die Recherchen von Hunderten kleiner Details, die er dann wie in einem Puzzle zu einem Film zusammenfügen kann.

Den Eröffnungsfilm stellte George Clooney in einer Art Heimspiel mit Die Iden des März, wo er selbst Regie führte. In dem gut gemachten Thriller um eine Wahlkampf-Kampagne in den USA spielt Clooney die Rolle des demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Er inszeniert sich dabei selbst auffallend zurückhaltend und tritt nur gelegentlich als ‚smart guy’ auf, der die bekannten amerikanischen Sprüche klopft, auf die Verfassung schwört und all die Werte hochhält, die er im Laufe des Films verraten wird. Clooney wirft einen selbstkritischen Blick auf ein Land, das zurzeit an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern droht. Das Drehbuch habe er zu der Zeit entwickelt, als Obama Präsident wurde, so Clooney auf der Pressekonferenz. Keine gute Zeit für den Film, doch die ganze Euphorie um den neuen Präsidenten war schon nach einem Jahr wieder verklungen, so dass der Film wieder eine erstaunliche Aktualität erhielt. Clooney spielt die Rolle des medienaffinen Politikers so überzeugend, dass die Frage, ob er nicht selbst für die Präsidentschaft antreten will, auf der Hand lag. „Da ist zurzeit ein Typ im Amt, der wohl smarter und leidenschaftlicher ist, als sonst jemand, den ich kenne und noch dazu ein netter Kerl ist. Er erlebt nur eine unmögliche Regierungszeit, eine Zeit in der der Zynismus über den Idealismus siegt, eine Zeit, die, wie ich hoffe, bald vorbei ist“, so Clooney.

Auch Steven Soderbergh berichtet in "Contagion" von einer harten Zeit. Beinahe dokumentarisch beschreibt er die Ausbreitung eines gefährlichen Virus über die ganze Welt. Alles was wir in den letzten Jahren über eine Pandemie gelesen haben, wird hier zur Handlung des Films. Er bemüht sich dabei um wissenschaftliche Korrektheit, spekuliert aber ein wenig im politischen und administrativen Bereich. Sein Film ist technisch, statisch und vor allem kalt. Auch wenn er Einzelschicksale thematisiert, bleibt er emotionslos. Dafür gelingt es ihm, eine Brücke zum Zeitgeschehen zu schlagen. Denn überall da, wo der Staat auch nur ansatzweise versagt, egal ob die Nahrungs- und Wasservorräte nicht ausreichen oder der wenige Impfstoff verteilt werden soll, reagiert die Bevölkerung mit Aufständen. So malt er ein Gesellschaftsporträt, in der es nicht mehr darum geht, einander zu helfen, um gemeinsam zu überleben, sondern ein jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, den es zu sichern gilt. Dies erinnert nicht nur an die vergangenen Bankenkrisen, sondern auch an die jüngsten Krawalle in England. Fürwahr eisige Zeiten.

Vom Weltuntergang handelt auch Abel Ferraras 4:44 Last Day on Earth, in dem ein Schriftsteller (Willem Dafoe) und eine Malerin (Shanyn Leigh) die letzten Stunden auf Erden gemeinsam in ihrem New Yorker Appartement verbringen. Sie lieben sich, reden aber wenig miteinander. Er beobachtet die Nachbarn vom Balkon aus, sieht wie einer in die Tiefe springt, während sich andere erschießen wollen, doch die Mehrheit der Bevölkerung ist ruhig und hat ihr Schicksal akzeptiert. In der Wohnung läuft der Fernseher mit Nachrichten, wissenschaftlichen Analysen und einer Rede des Dalai Lama. Er verweist noch einmal darauf, dass der Mensch nicht über der Natur steht, sondern ein Teil von ihr und für sie verantwortlich ist. Ferraras Apokalypse ist ein Kammerspiel, das nicht viel zu erzählen hat, außer vielleicht, dass das, was man hätte tun können, längst hätte getan werden müssen.


Hauptdarsteller Willem Defoe (Last Day on Earth)

Ähnlich belanglos ist die amerikanische Killerkomödie Killer Joe von William Friedkin, der auf dem Land in den USA spielt, wo der 22-jährige Drogendealer Chris Ärger mit seinem Boss hat, weil seine Mutter ihm die letzte Drogenlieferung gestohlen hat. Also beratschlagt er mit seinem Vater, wie er das Geld beschaffen kann und gemeinsam kommen sie auf die Idee, einen Killer namens Joe anzuheuern, der die allen verhasste Mutter töten soll, damit seine Schwester Dottie die Lebensversicherung erben kann. Doch Killer Joe will seinen Lohn im Voraus, ein Prinzip, von dem er sich nur abbringen lässt unter der Bedingung, dass Dottie ihm, bis er das Geld bekommt, für seine sexuellen Phantasien zur Verfügung steht. Klar, dass am Ende alles schief geht und Dottie das Geld gar nicht erbt. Und so ist der Showdown dann noch chaotischer als der ganze Film, der sich recht unterhaltend, aber auch ziemlich platt um Sex, Gewalt und Geld dreht.

Ebenfalls wenig überzeugend war Todd Solondz Dark Horse, der sich in Venedig erfreut zeigte, dass es überhaupt noch Produzenten gibt, die seine Filme finanzieren. Aber auch DARK HORSE wird wohl seine Dauerkrise nicht beenden, obwohl er einmal nicht so düster daherkommt wie seine früheren Werke. Ein Mittdreißiger lebt noch bei seinen Eltern (witzig gespielt von Christopher Walken und Mia Farrow) und macht keinerlei Anstalten, das Nest zu verlassen. Als er beginnt, sich für eine junge Frau zu interessieren, wird die Sache kompliziert. Leider bleiben die Figuren Karikaturen ihrer selbst, und Solondz' gewohnte Bissigkeit und Sozialsatire bleibt hinter den Erwartungen zurück.

Immerhin einen Achtungserfolg konnte Madonna mit ihrer zweiten Regiearbeit W.E. verbuchen. In einer Art Prequel zu "The King’s Speech" erzählt sie von der Liebesgeschichte der Amerikanerin Wallis Simpson und König Edward, der sein Amt zu Gunsten seiner großen Liebe aufgibt und damit den Weg zum Thron für King George V, seinen Bruder, frei macht. Madonna kombiniert die Geschichte mit einer ähnlichen Liebesgeschichte aus dem heutigen New York. Erzählt wird sie von Wally, einer jungen Amerikanerin, die glaubt, gerade selbst eine solche Geschichte durchzumachen. Madonnas Film überzeugt vielleicht nicht immer inhaltlich, auf jeden Fall aber mit seiner Reichhaltigkeit: Mit über 100 Schauplätzen, einer ausgesprochenen Vorliebe für Dessous, Accessoires und Design und mit einem individuellen Soundtrack versehen, ist er auf allen Ebenen ein Feuerwerk, das viele Ähnlichkeiten zur heutigen Zeit aufweist. Angefangen mit den Nöten von Frauen, die plötzlich zu ‚celebrities’ werden, bis hin zu Themen wie der Rolle der Frau in den letzten 100 Jahren. Am Ende gelingt ihr noch eine schöne Anspielung mit einer Szene, in der Mohamed Al Fayed bei einer Auktion bei Sothebys die Briefe von Wallis erwirbt und den Wally überreden kann, sie ihr zu Studienzwecken zur Verfügung zu stellen, schließlich ist auch sein Sohn Opfer seiner plötzlichen Berühmtheit geworden und wurde als Eindringling in die britische Adelsgesellschaft gesehen. Ein Film, der zwar bei der Presse durchfiel, an der Kinokasse aber durchaus erfolgreich sein könnte.

Mit schönen Bildern konnte Viktor Kossakovsky in seinem Film Vivan Las Antipodas! auftrumpfen, an dessen Finanzierung deutsche Fernsehanstalten beteiligt waren. Er montiert Bilder von acht Orten der Welt, von denen sich jeweils zwei gegenüber liegen und Antipoden sind. Angeblich hat er sich damit einen Kindheitstraum erfüllt. Auch wenn er inhaltlich nicht viel zu bieten hat, gelingen ihm tolle Naturaufnahmen.

Ebenfalls im Farbfilm-Verleih und in einer Nebensektion zu sehen war der russisch- französische Film Land in Oblivion, der am gleichen Tag spielt wie "An Einem Samstag"; nur dass es sich hier nicht um einen milden Spätsommertag handelt, sondern es den ganzen Tag Bindfäden regnet. Auch hier gibt es eine Hochzeit, denn Anya heiratet an diesem Tag einen Feuerwehrmann, der noch während der Hochzeitsfeierlichkeiten zu einem Einsatz gerufen wird. Sie wird ihn niemals wiedersehen. Während AN EINEM SAMSTAG nur an einem Tag spielt und davon handelt, nicht flüchten zu können, erzählt dieser Film von jenen, die tags drauf evakuiert wurden und sich in ihrer neuen Heimat nie zuhause fühlten. Ein Film über Verlust. Verlust von Menschen, Verlust von Heimat, insbesondere Letzteres können die wenigsten akzeptieren. Also kein Film über das Weglaufen, sondern ein Film über das Bleiben und die Probleme von Evakuierungen.

Weitere Wettbewerbsbeiträge, die eigentlich keiner Erwähnung bedürfen, sind das ziemlich kitschige italienische Berg- und Familiendrama Quanda la notte von Cristina Comencini, das hauptsächlich Hohn und Spott erntete, wie auch Un été brulante von Philippe Garrel, in dem Louis Garrel erneut in einem Film seines Vaters die Hauptrolle übernahm, diesmal neben Monica Bellucci, der unfreiwilliges Gelächter hervorrief.

Leider konte auch Eran Kolirin mit der Pandora-Produktion The Exchange nicht an sein Meisterwerk "Die Band von nebenan" anschließen. Vielmehr scheint er mit seinem Überraschungserfolg in Cannes in ein derart tiefes künstlerisches Loch gefallen zu sein, das er hier auf Kosten des Zuschauers durchdekliniert.

Atmosphärisch dicht und ‘very british’ kam Tomas Alfredson mit seinem Spionagefilm Dame, König, As, Spion daher, eine John le Carré-Verfilmung, die den Kalten Krieg wiederauferstehen lässt. Starbesetzt mit Colin Firth, John Hurt und Gary Oldman gerät die Suche nach einem Verräter in den eigenen Reihen zu einem komplizierten Puzzle, bei dem man gern einmal den Überblick verliert.

Nach ihrem großen Erfolg mit "Persepolis" brachte die iranische Regisseurin Marjane Satrapi diesmal eine märchenhafte Liebesgeschichte mit an den Lido. In Huhn mit Pflaumen sucht der Geigenvirtuose Nasser Ali Khan nach einem Ersatz für sein zerbrochenes Instrument, doch keine Geige vermag seine alte zu ersetzen. Daher beschließt er, im Bett zu bleiben und sich aus dem Leben zurückzuziehen. Er hängt der Vergangenheit nach und erinnert sich an seine Jugend, als er sich unsterblich in eine junge Frau namens Iran verliebte. Nun erfahren wir Stück für Stück, warum die Geige sein Ein und Alles war und er die Lust am Leben verloren hat.
Die Liebe zu einer Frau setzt Satrapi gleich mit der Liebe zur Kultur (Geige) und der Liebe zu einem Land (Iran unter Mosaddegh), doch diese Liebe bleibt nur ein märchenhafter Traum. Irgendwie erscheint Satrapis Film trotz teilweise magischer Bilder ein wenig nihilistisch und resigniert. Da ist die grüne Revolution mit ihren Filmen hier in Venedig schon kämpferischer aufgetreten.

Damit kommen wir zu unseren persönlichen Favoriten. Zum einen ist da Philip Liorets Toutes nos envies, der schon mit "Welcome" im letzten Jahr in Cannes einen starken Film vorgelegt hatte. Der neue erinnert ein wenig an "Mein Leben ohne mich" von Isabel Coixet und dennoch setzt er einen ganz anderen Akzent und will viel mehr. Claire ist eine junge Anwältin am Gericht von Lyon. Gerade hat sie von ihrem Arzt die tödliche Diagnose Gehirntumor erfahren, da trifft sie jene Mutter vor Gericht wieder, deren Tochter sie gerade mit zwölf Euro die Teilnahme an einer Klassenfahrt ermöglicht hat. Diese ist angeklagt, die Ratenzahlungen ihres Kredites säumig zu sein. In der Folge deckt sie zusammen mit ihrem Kollegen (Vincent Lindon) die Machenschaften der Banken auf, die Kredite an wenig Begüterte vergeben, die diese niemals zurückzahlen können. In einer Art Justiz-Thriller decken sie diese Machenschaften auf und gehen bis zum europäischen Gerichtshof, um ihre Unterbindung durchzusetzen. Das Ganze ist als Spiel gegen die Zeit inszeniert, denn ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend, und der Ausgang des Prozesses ist verknüpft mit dem Fortbestehen ihrer kleinen Familie, für die sie ja bald nicht mehr sorgen kann. So gelingt Lioret eine fulminante Mischung aus sozialkritischem und emotionalem Kino, das kein Auge trocken lässt.

Neben Christopher Waltz hat es auch Daniel Brühl als Schauspieler in den Wettbewerb geschafft, allerdings außer Konkurrenz. In dem spanischen Beitrag Eva, einem Genre-Film, der den Erwartungen, die man an ihn hat, bewusst entgegensteuert. Der Science-Fiction-Film verzichtet auf Parallelwelten, Action- und Verfolgungsszenen. Der Regisseur konzentriert sich auf eine Dreiecksbeziehung, die zwar 2211 spielt, deren Kulisse aber sehr zeitgenössisch daherkommt – ein verschneites Örtchen in den Bergen, was wie der Regisseur auf der Pressekonferenz versicherte – den Wärme gewohnten Spaniern schon exotisch genug anmute. Den kalten Außentemperaturen stehen hier die brodelnden Emotionen der Protagonisten gegenüber. Kike Maíllo wollte das Genre Sci-Fi neu erschließen für ein eher älteres Publikum, das mehr auf Emotionen setzt als auf Technik und Action, und dies ist ihm ausgezeichnet gelungen. Eine spannende, warmherzig erzählte Geschichte mit guten Darstellern – neben Daniel Brühl und Marta Etura glänzt vor allem die kleine Claudia Vega als Eva – und wunderbar poetischen Bildern, die die Frage aufwarf, warum das Werk aus der Filmhochschule Barcelona nur außer Konkurrenz lief.



Trat in einer Nebenreihe auf: der deutsche Star Daniel Brühl (Eva)

Insgesamt erlebte Venedig das beste Festival seit langem. Schon das Line Up mit den vielen bekannten Namen machte neugierig und viele Filme bewegten sich auf einem Niveau wie schon lange nicht mehr. Irgendwie hatte man den Eindruck, dass Festivaldirektor Marko Müller in seinem letzten Jahr am Lido noch einmal ein richtiges Feuerwerk abbrennen wollte. Das ist ihm wohl gelungen, worauf auch die Diskussion in der italienischen Presse hinweist, die Frage diskutierte, ob er wirklich gehen müsse. Die Statuten des Festivals schreiben es so vor, doch wer weiß, vielleicht werden die Verantwortlichen diese ja ändern. Von einem Nachfolger war in Venedig jedenfalls nichts zu hören.

Text/Foto: Kalle Somnitz/Anne Wotschke

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