Das Filmfestival in Locarno präsentierte Mitte August in der Sektion des Internationalen Wettbewerbs zwar nur zwei Filme von Regisseurinnen. Dafür überzeugten beide besonders in der Wahl und Umsetzung ihrer Themen. Ein Filmfest ist immer auch Indikator dafür, welche Problematiken für eine Gesellschaft derzeit eklatant oder akut sind. In den Filmen des Wettbewerbs, aber auch der anderen Sektionen, stach dabei ein Thema klar heraus: das der Familie bzw. des Zusammenbruchs der Familie und daraus folgende neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders.
HET ZUSJE VAN KATIA („Katias Sister“) von Mijke de Jong (zuletzt: 2007 „Tussenstand“) etwa behandelt wie eigentlich alle Filme der niederländischen Regisseurin, die auch eine Ausbildung als Sozialarbeiterin absolviert hat, ein gesellschaftliches Thema, inszeniert mit einer dokumentarischen Bildsprache. Hier steht eine 13Jährige im Mittelpunkt, die sich selbst nur als „Katias Schwester“ bezeichnet. Vernachlässigt von ihrer Familie – ihre Mutter, eine russische Immigrantin, prostituiert sich, die vergötterte große Schwester arbeitet als Stripperin in einem Nachtclub – geht Katias Schwester allein in den Straßen Amsterdams auf Kontaktsuche und baut sich mit der ihr eigentümlichen Naivität eine eigene Version von „Familie“ auf.
So wie dieser Film im Zusammenhang des Prozesses von Auflösung und Neuerfindung von Familie auch von Einsamkeit, Verlustängsten und Liebe handelt, verhält es sich auch mit dem zweiten Wettbewerbsbeitrag, der in Locarno mit dem Preis der Internationalen Jury, dem Silbernen Leoparden, ausgezeichnet wurde:
Die deutsch-polnische Koproduktion 33 SCENY Z ZYCIA („33 Scenes from Life“) von Malgoska Szumowska, die bereits mit ihrem Spielfilm „Ono“ (2004) auf der Berlinale beeindruckte, schildert das Auseinanderbrechen der Familienidylle der jungen Fotografin Julia (gespielt von Julia Jentsch) als Folge der plötzlichen und unheilbaren Krebserkrankung der Mutter. Julia verliert ihre schützende Umgebung, wird vor Entscheidungen gestellt und mit dem Erwachsenwerden genauso konfrontiert wie mit der Tatsache, dass es im Angesicht von Tod und Verlust keine angemessenen Verhaltensweisen gibt. Diese Unvorhersehbarkeit der eigenen Reaktionen, die Banalität und Absurdität des Geschehens gelang der Regisseurin, die selbst ebenfalls völlig unerwartet beide Eltern innerhalb von nur sechs Monaten verloren hat, mit einem sehr speziellen, „osteuropäischen“ Humor umzusetzen. Wenn die Traurigkeit nicht mehr auszuhalten ist, muss eben mal ein hysterischer Lachanfall Abhilfe schaffen. Inspiriert haben sie dabei die Filme von Aki Kaurismäki, so die Regisseurin nach der Vorstellung. Der Film, der übrigens im November vom Kölner Filmverleih Real Fiction in die Kinos gebracht wird, habe ihr Kraft gegeben, sie wisse nun mehr über das Leben. Und wir auch.
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