Alles, was in Köln zum zweiten Mal stattfindet, besitzt „Tradition“. Mit dem Hinweis auf die Vergangenheit versichert sich der Kölner gerne seiner Bedeutung. Manche Dinge reichen aber tatsächlich auf fruchtbare Weise aus der Vergangenheit in unsere unmittelbare Gegenwart. Wie etwa der Basalt aus der Eifel, mit dem die Romanischen Kirchen erbaut wurden, der gleiche Stein wird für die Sockel verwendet, auf denen die „Offenen Bücherschränke“ ruhen. Vor 10 Jahren stellte der Architekt Hans-Jürgen Greve die erste „Bokx“ – wie er seine Erfindung nennt – im Goltsteinforum des Kölner Südens auf. Damals drang die Bedrohung der Lesekultur erstmals auf breiter Front ins gesellschaftliche Bewusstsein. Spontan tauchten an Straßenecken und Plätzen rührende Konstrukte selbst gezimmerter Bücherkisten auf, die dann spätestens beim übernächsten Regen ruiniert waren. Greve ging die Sache systematisch an, er entwarf eine umsichtige Konstruktion, arbeitete mit widerstandsfähigen Materialien, so dass man schließlich als Passant genussvoll die großen Türen der Schränke öffnen konnte, um sich ihren literarischen Inhalt anzuschauen.
Inzwischen stehen 28 Schränke in Köln, 14 in Düsseldorf, 9 in Essen, 85 in Frankfurt und über 500 insgesamt in deutschen Städten. Greves Konzept beeindruckte von Beginn an durch seine komplexe Struktur. Mit der Produktion der Schränke allein ist es nämlich nicht getan, sie brauchen auch eine „Pflege“ im doppelten Sinne. Jeder Schrank hat Paten, Menschen, die sich um seinen Inhalt und Zustand kümmern. Sie sind involviert, wenn Initiativen zu Lesungen oder Veranstaltungen im Umkreis der Standorte organisiert werden. Unter den anfänglichen Vorbehalten gegenüber den Schränken kursierte die Furcht vor Vandalismus an erster Stelle. Der Schrank verändert jedoch das soziale Klima im städtischen Biotop. Menschen schauen neugierig in die Regale. Wenn man sie dabei beobachtet, bemerkt man die Intimität, die in dieser Geste steckt. Das Interesse am gedruckten Wort wird zu einem Teil der städtischen Bühne. Dieser Kontrast zum Gedröhne des Straßenverkehrs, bei dem jeder in seiner Fahrgastzelle verharrt, verändert unser Bild des öffentlichen Raums.
Insofern stellen die Bücherschränke schon einen Bestandteil eines zukünftigen Lebens in unseren Städten dar, das mit dem Rückzug der Verbrennungsmotoren neue Räume bieten wird, die gestaltet werden wollen. Das Buch gehört hier unbedingt dazu, weil es schon als bloßer Gegenstand ein Gefühl der Kontemplation verheißt. Für Köln hat Greve eine neue Edition von Bücherschränken entworfen, auf denen die Zwillingstürme des Doms in Rot prangen. Über die Jahre sind die Bücherboxen zu emblematischen Erscheinungen geworden. Kommt man in eine fremde deutsche Stadt und sieht einen der Schränke, weiß man, dass hier Menschen zusammenkommen und die Betriebstemperatur des öffentlichen Lebens eine Beruhigung erfährt. In einer Welt, die von digitalen Nachrichten beherrscht wird, erinnern die Schränke an die analoge Begegnung mit Menschen und kulturellen Inhalten. Das altmodische Medium des Buches könnte sich wieder einmal als Rezept für eine bessere Zukunft erweisen.
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