Es gibt Autoren, denen werden die Klischees, die man mit ihrer Person in Verbindung bringt, zum Verhängnis. Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) ist so ein Kandidat, den man sich als gemütlichen, langweiligen Konservativen vorstellt. Seine Entscheidung 1922 zum Katholizismus zu konvertieren und mit Father Brown einen Geistlichen als Detektiv zu erfinden, haben ihn nicht nur für eine jüngere Leserschaft vermeintlich disqualifiziert. G. K. Chesterton war gelernter Journalist und einer der meistbeachteten Intellektuellen der Zwischenkriegszeit in England. Kafka und Tucholsky gehörten zu seinen glühendsten Verehrern, und heute tauchen etwa in den Texten des slowenischen Philosophen und Psychoanalytikers Slavoj Zizek ungezählte Zitate von ihm auf. Genau jene Themen, die Chesterton beschäftigten, bewegen auch uns einhundert Jahre später. Der Engländer prangerte den aufblühenden Rassismus seiner Zeit ebenso an wie Großbritanniens Kolonialismus und war ein scharfer Kapitalismuskritiker. Nicht verschweigen darf man allerdings auch, dass diese Kritik mit antisemitischen Ausfällen durchsetzt war.
Eine Möglichkeit sein Werk wieder zu lesen, bietet jetzt der Kampa Verlag aus Zürich mit „Tod und Amen“, einer Gesamtausgabe der Father Brown-Geschichten. Zu Lebzeiten hatte Chesterton 49 Erzählungen veröffentlicht. Der Verlag leistete ganze Arbeit, um mit einer neubearbeiteten Übersetzung, einem wunderbar launischen Nachwort von Hanswilhelm Haefs und – besonders wichtig – mit einem umfangreichen Anhang ein Standardwerk zu etablieren. Die Geschichten um den temperamentvollen Geistlichen spielen im bürgerlichen Alltag, es gibt keine kriminalistische Exotik, aber jede Menge Hass, Eifersucht und Gier zwischen Vorgarten und Beichtstuhl. Die Geschichten stecken voller Humor und überraschender Wendungen, die aber stets logisch nachvollziehbar sind – darauf legte Chesterton besonderen Wert. Pater Brown bringt die Wahrheit ans Licht, und die ist zumeist von kalter Unbarmherzigkeit. Das britische Klassensystem tut sein Übriges, sodass der Geistliche zu Erkenntnissen kommt, die durchaus skandalös klingen. So etwa seine Behauptung, dass „in einem Mordfall die schuldigste Person nicht immer der Mörder ist.“
G.K. Chesterton: Pater Brown - Tod und Amen | Aus dem Englischen von Hanswilhelm und Julian Haefs | Kampa Verlag | 1272 Seiten | 38 €
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