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Regisseurin Tianlin Xu beim Dreh in China mit jungen Dorfbewohnern
Foto: Presse

Unverfälschter Blick auf China

11. Dezember 2015

Deutschlandpremiere der Wuppertaler Produktion „Coming and Going“ im Rex Kino – Foyer 12/15

Wuppertal, 8. Dezember – Ein Glückstag für die Filmstadt Wuppertal: Das Rex Filmtheater so voll gefüllt mit jungem, kreativem Premierenpublikum, dass man den Eindruck bekommen könnte, das alt-ehrwürdige Filmtheater sei eigens für Filmpremieren erbaut bzw. renoviert worden. Dazu die Deutschlandpremiere eines preisgekrönten Dokumentarfilms, der nicht nur im Tal produziert sondern auch per Crowdfunding von Bürgern und Unternehmen der Stadt mitgetragen wurde. Und im Mittelpunkt dann ein sehenswerter Film aus einem Land, zu dem die Stadt Wuppertal spätestens seit der aus Fernost erfolgten Stiftung einer Engels-Statue ein besonderes Verhältnis hat: China.

Klischees kann man allerdings gleich mal über Bord werfen, sobald „Coming and Going“ auf der Leinwand beginnt. Und das ist auch gut so. Man sieht den Alltag der beiden Brüderpaare Lu und Li und ertappt sich schnell bei dem Gedanken: Ist unser Chinabild nicht furchtbar von Stereotypen geprägt? Denken wir nicht unwillkürlich an die Glitzerfassaden der Wolkenkratzer von Shanghai und den Smog in Peking, vielleicht noch an die Ausbeutung von Arbeitskräften und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, wenn wir an China denken? Doch wissen wir wirklich, was die Menschen dort bewegt?

Tianlin Xu mit den Produzentinnen Kim Münster (rechts) und Luiza Maria Budner, Foto: Presse

„Coming and Going“ der chinesischen Regisseurin und Wahl-Hattingerin Tianlin Xu hat das große Verdienst, ganz ohne die westliche Brille auszukommen und gerade deshalb auch viel von unserem Verhältnis zu China zu erzählen. Denn „der Westen“ kommt im Film durchaus vor. Da sind zum Beispiel die jungen europäischen Touristen in einem Hostel, die sich ganz selbstverständlich von ihrem schlechtbezahlten chinesischen Altersgenossen bedienen lassen oder die fabrikneuen Apple-Bildschirme, die scheinbar zufällig ins Bild ragen. Überhaupt die Erkenntnis: Geld und Konsum scheinen im modernen China, der „Fabrik der Welt“, eine wichtige Rolle zu spielen.

Indem sich der Film konsequent auf seine Protagonisten konzentriert, bleiben diese Aspekte aber subtiler Hintergrund. Stattdessen erleben wir die Brüder Li  in ihrer ganz normalen Dorfschule, wie sie mit den Noten der letzten Mathearbeit hadern, sich inmitten ihrer heimatlichen Bergkulisse mit ihren Großeltern necken oder skeptisch die Fotos der neuen Freundin ihres Vaters beäugen. Dazwischen immer wieder Momente des Wartens: Der Vater der beiden Brüder ist als Wanderarbeiter ausgezogen und der Besuch im Heimatdorf bei seinen Kindern verzögert sich Monat für Monat. Parallel dazu wird die Geschichte der Teenager-Brüder Lu erzählt, die sich in den Provinzstädten mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Beide wissen, dass sie als Schulabbrecher hier kaum bessere Verdienstmöglichkeiten haben als auf dem heimischen Bauernhof. Und doch treibt die beiden Waisen der Drang, die Welt hinter dem Horizont zu  entdecken.

Es sind Geschichten, die von Sehnsucht aber auch einer gewissen Unbestimmtheit getragen sind. Ganz so wie das moderne China. Man braucht als Zuschauer also durchaus etwas Geduld für den Film. Es lohnt sich aber, genau hinzuschauen. Dabei erweist sich die Kamera von Chris Caliman als brillanter Beobachter, die durch einen Blick für Details überzeugt, ohne dabei das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Beeindruckend ist auch die poetische Sprache der Protagonisten, die immer wieder unvermittelt zum Vorschein kommt. So muss man zum Beispiel kein Wort der Originalsprache verstehen, um die große Lebenszuversicht in den Lauten zu spüren, mit denen der kleine Qiang Li am Ende des Films seine Zukunftspläne beschreibt. 

Nach dem Film steht das gesamte Team von „Coming and Going“ vor dem goldenen Vorhang des Kinos und beantwortet die Fragen des Publikums. Dabei erfährt man viel über die Produktion. Dreieinhalb Jahre Arbeit stecken insgesamt in dem Projekt. Der Dreh in drei Sprachen (Mandarin, Lisu und Yi) stellte nicht nur das deutsche Kamera- und Schnittteam sondern auch die Regisseurin immer wieder vor neue Herausforderungen. Auch von China wird erzählt. Man erfährt zum Beispiel, dass die soeben gelockerte Ein-Kind-Politik Chinas auch vorher schon durch Strafzahlungen unterwandert und in ländlichen Gebieten gar nicht galt. Und dass es in China unterschiedliche Residenzpflichten für Land- und Stadtbewohner gibt, so dass die ursprünglichen Landbewohner schon aus formellen Gründen als Wanderarbeiter von Stadt zu Stadt ziehen müssen.

Danach wird  in den Foyers des Kinos eifrig weiterdiskutiert, bevor es zum Feiern nach nebenan in die „Lola“ geht. Der Oberbürgermeister ist auch noch da. Die beiden Wuppertaler Produzentinnen Kim Münster und Luiza Maria Budner (Treibsand-Film) erzählen von der Herausforderung, einen Filmverleih zu finden. Und das, obwohl „Coming and Going“ schon eine beeindruckende Festivaltour, von der gefeierten Weltpremiere in Mexiko über New-Delhi und Jerusalem bis hin zur Nominierung für die First Steps Awards in Berlin hinter sich hat. Auch die renommierte Sundance-Foundation unterstützte „Coming and Going“. Man wünscht dem Film auf jeden Fall, dass er ein noch breiteres Publikum findet. So wie es überhaupt mehr gute Dokumentarfilme im Kino geben müsste. Gerne auch wieder aus Wuppertal.

David Fleschen

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