Am Ende hatte die Liste der prominenten Besucher gar nicht mehr auf das ursprüngliche Blatt Papier gepasst. Nachdem sich zunächst Regisseur Sönke Wortmann und Hauptdarsteller Lucas Gregorowicz zum Filmbesuch im Rex-Kino angekündigt hatten, kam irgendwann auch noch Anna Bederke, die die weibliche Hauptrolle verkörpert, dazu. Und plötzlich hing daneben noch ein weiterer Zettel. „Wahnsinn: Autor Frank Goosen kommt auch.“
Und so kam es dann tatsächlich: Die Uhr zeigt schon fast 23 Uhr spät, als sie alle durch die Mitteltür ins Filmtheater treten und die Zuschauer begeistert applaudieren. Und obwohl mit Sönke Wortmann einer der erfolgreichsten deutschen Regisseure und mit Frank Goosen einer der bekanntesten Romansautoren vor der Leinwand stehen, ist die Atmosphäre fast wohnzimmerartig familiär.
Da passt es gut, dass Sönke Wortmann noch vor seinen beiden Hauptdarstellern einen anderen wichtigen Akteur auf die Bühne bittet: Robert Gregorowicz, der Vater des Hauptdarstellers, hat zwar auf der Leinwand nur einen Sekundenauftritt als Filmvater-Leiche, doch damit durchaus eine tragende Rolle. Denn der Tod des Vaters und damit die Geschichte von der Zeit, die sich niemals rückwärts dreht, ist das zentrale Element von „Sommerfest“
Die Botschaft: Wer sich auf die Suche nach der Zeit macht, muss sich selbst auf den Weg in die Vergangenheit machen. Und wenn Sönke Wortmann schon einen Roman von Frank Goosen verfilmt, ist es natürlich klar, dass diese Reise nur in den Ruhrpott führen kann und damit gleichzeitig auch ein wenig Reminiszenz an das eigene Lebenswerk ist. Einige werden sich erinnern: Vor 26 Jahren machten sich in Wortmanns Film „Kleine Haie“ drei angehende Schauspieltalente hoffnungsfroh in der Pimp-Karre eines Fahrers namens Bierchen auf den Weg aus dem Ruhrgebiet zur Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule in der Großstadt München.
Jetzt führt die Geschichte, gewissermaßen als Fortsetzung von „Kleine Haie“, im klimatisierten ICE von München zurück nach Bochum. Den richtigen Durchbruch hat der Schauspieler Stefan Zöllner (Lucas Gregorowicz) nicht geschafft. Aus Träumen sind Notwendigkeiten geworden. Eine Rolle in einer Fernsehsoap ist (ganz analog zum tatsächlichen Alltag vieler Schauspieler) ein letzter Hoffnungsschimmer. „Irgendwie läuft alles in die falsche Richtung“, sagt Zöllner.
Dass mit der Beerdigung des Vaters nun ein Selbstfindungstrip in der alten Heimat einsetzt, ist irgendwie klar. Doch wer jetzt eine vorhersehbare Schnulze oder etwas referatartiges zum Strukturwandel erwartet, ist auf dem Holzweg. Das liegt vor allem an dem großartig aufspielenden Ensemble. Lucas Gregorowicz, Schauspieler mit Bochumer Wurzeln, der im echten Leben zwischenzeitlich seine Brötchen als Sunnyboy in einer Wiener Fernsehserie verdiente, ist als Protagonist dabei natürlich fast schon ein Selbstläufer. Und die Hamburgerin Anna Bederke (als Stefans Jugendliebe Charlie) setzt dazu mit ihrer melancholisch-pragmatischen Art ein wunderbares Gegengewicht zu allzu viel Ruhrgebietspatina.
Und doch kriegen am Ende die Ruhrgebietsoriginale die meisten Lacher im Kinosaal ab. Zurecht: Ob Nicholas Bordeaux als alter Kumpel Toto oder Elfriede Fey als Omma Ännie. Die hervorragend besetzten Nebenrollen bieten Ruhrgebietsklischees vom Feinsten, und sind dabei doch frei von Plattitüden. Das hat natürlich auch mit den gewitzten Dialogen von Frank Goosens Vorlage zu tun. Kostprobe: „Und von der schönsten Stadt der Christenheit, trennt uns nur noch Wattenscheid“, zitiert Gregorowicz aus einem Goosen-Gedicht eine Lobeshymne auf die gemeinsame Heimat Bochum. Natürlich während er im Stau auf der A40 steht.
„Das Sönke Wortmann Teile meines Buchs geändert hat, damit kann ich gut leben“, sagt der sichtlich zufriedene Frank Goosen bei der anschließenden Filmbesprechung: Dass auf der Leinwand ein verkorkster Ausflug nicht in die (aus Bochumer Sicht) „verbotene Stadt“ Dortmund sondert nach Gladbeck führt, weil das Filmteam da die besseren Schrotthäuser fand kann der Autor noch akzeptieren. „Nur dass unser Bochumer Jungprofi Görkem Sağlam ausgerechnet eine gelbe Jacke tragen muss, finde ich nicht so toll“, resümiert Goosen (der auch im Aufsichtsrat des VfL sitzt) in Anspielung an die vorherrschenden Vereinsfarben in Bochums östlicher Nachbarstadt.
Ist aber natürlich alles nur Spaß. Das Filmteam und Goosen sind sichtlich froh darüber, „die erste Filmvorführung außerhalb von Bochum“ (dort fand einen Tag vorher die Sommerfest-Weltpremiere statt) mit Bravour bestanden zu haben. Entspannt und gut gelaunt sind sie auch lange nach Filmende in den Foyers des Rex zu sehen und lassen sich geduldig zu Autogrammen, Selfies und Filmfragen überreden.
Wie es Rex-Betreiber Mustafa El Mesaoudi schafft, solche Kinogrößen überhaupt zum Besuch in Wuppertal zu überreden, demonstriert er derweil schon vor Filmbeginn. Gemeinsam mit dem Publikum nimmt Mesaoudi eine Videobotschaft an Regielegende Fatih Akin auf: „Lieber Fatih Akin, hiermit lade ich dich ganz herzlich ein, deinen neuen Film „Aus dem Nichts“ bei uns zu präsentieren“. Dann unterbricht er sich selbst: „Ach Quatsch: Du musst einfach nach Wuppertal kommen.“
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