Er wurde am Anfang seiner Bemühungen als Dirigent meist belächelt. Aber er schwang sich auf zum wichtigsten Erneuerer „Klassischer Musik" von der Barockzeit letztlich bis zur Romantik. Und eigentlich erzog der Grazer Musiker Nikolaus Harnoncourt seine Jünger zum Zuhören: Im letzten Monat hat der 86-jährige Dirigent sich spontan aus gesundheitlichen Gründen von der Konzertbühne verabschiedet.
In Harnoncourts Kultbuch „Musik als Klangrede" (1985) konnten seine frühen Fans einen Kernsatz unterstreichen, in dem der Nestor der „Alten Musikszene" den Niedergang der Musikinterpretation „vom Bewegenden zum Hübschen" anprangerte – und die Bedeutungslosigkeit der musischen Künste für die aktuelle Gesellschaft unterstreicht 30 Jahre später, wie folgenreich dies war.
Drei künstlerische Großtaten des einstigen Cellisten der Wiener Sinfoniker gingen dem Buch voraus. So war die Gründung des eigenen Klangkörpers Concentus Musicus Wien im Jahre 1953 sicherlich spektakulär. Die obligatorische Verwendung von Originalklanginstrumenten markierte den Beginn der Alte-Musik-Bewegung und verlieh ihm den Spottnamen „Darmsaitenritter". Mit dem Monteverdi-Zyklus – gemeinsam mit Ponnelle 1975 in Zürich – wurde ein Großmeister für die Bühne wieder entdeckt. Und mit der folgenden Neusichtung der Mozartopern, wieder mit Ponnelle, entriss Harnoncourt vertraut geglaubtes Routinerepertoire dem romantischen Zeitgeist.
Harnoncourt in einer von mir erlebten Meisterklasse vor wenigen Jahren: „Die Leidenschaft müsste durchbrechen, Sie sind zu zivilisiert!" Gemeint waren die jungen Musiker, zwischen denen der Maestro herumfuchtelte. Harnoncourt will jeden Themeneinsatz mit Charakter erleben. „Musik als Klangrede" ist kein schöner Buchtitel, sondern steht für eine ganze Philosophie. Musik entstand nicht auf dem Reißbrett, sondern jede Phrase ist Frage oder Antwort, Behauptung oder Verneinung, Freigeist oder Mitläufer. Musik lebt, sie benötigt Luft. Harnoncourt: „Atmen muss nicht nur das Rhinozeros!" Alte Musik ist keine Antiquität. Harnoncourt: „Das ist ja keine alte Musik, damals war das neue Musik, die die Hörer in Ekstase gebracht hat." Das will er hören. Harnoncourt: „Es muss in die Beine gehen, wie Dixieland!"
Es existiert eine filmische Dokumentation über Harnoncourts Proben zur „Fledermaus". Dort lassen sich der Pioniergeist und der neue, tiefe Blick auf musikalische Strukturen der so leicht empfundenen Musik von Johann Strauss miterleben, es ist eine Musikstunde auch für Kenner. Jetzt schrieb der auch als „Anti-Karajan" verehrte heutige Weltstar als Grußwort im „Wiener Musikverein": „Wir sind eine glückliche Entdeckergemeinschaft geworden." Seine Freunde auf der ganzen Welt wünschen ihm mit einer Träne im Auge noch eine gute Zeit.
Info: www.harnoncourt.info
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Mit weiblicher Inspiration
City of Birmingham Symphony Orchestra in Dortmund – Klassik an der Ruhr 02/20
Ein bisschen Spaß muss sein
Julia Jones dirigiert das Sinfonieorchester Wuppertal – Klassik an der Ruhr 12/19
Verstehen – verwirren
Tage Alter Musik: „Les voyages de l´Amour“ in Herne – Klassik an der Ruhr 11/19
Freches Geburtstagsgeschenk
Moritz Eggert komponiert zum 100. Geburtstag in Bochum – Klassik an der Ruhr 10/19
Sommerliche Pfeifentöne
Orgelwettbewerb in Wuppertal – Klassik 08/19
Andere Konzerte zum Saisonende
Die Philharmonie Essen präsentiert das Besondere – Klassik an der Ruhr 07/19
Aus Beethovens Tagen
Goebel und Contzen besuchen Duisburg – Klassik an der Ruhr 04/19
Blick zurück, Blick voraus
Die Essener Philharmoniker umzingeln Tschaikowski – Klassik an der Ruhr 02/18
Rebellen und Revoluzzer
In Herne poltert die Alte Musik – Klassik an der Ruhr 11/17
Mutiges Credo
Der Robert-Schumann-Saal in Düsseldorf mit neuem Programm – Klassik an der Ruhr 10/17
In der guten Stube
Isabelle van Keulen übernimmt Künstlerische Leitung in Neuss – Klassik an der Ruhr 09/17
Originelle Qualität
„Weihnachten mit Daniel Hope“ in der Philharmonie Essen – Klassik an der Ruhr 12/24
Friedenslieder zum Jahresende
„Silvesterkonzert – Bernstein & Gershwin“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 12/24
Aus Alt mach Alt
Tage Alter Musik in Herne 2024 – Klassik an der Ruhr 11/24
Sinfonische Vollender
Gil Shaham in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 11/24
Weiblicher Beethoven
Emilie Mayers 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 10/24
Ein Himmel voller Orgeln
Zwei Orgelfestivals in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 10/24
Mit virtuoser Blockflötistin
33. Festival Alte Musik Knechtsteden in Dormagen und Köln – Klassik an der Ruhr 09/24
Nach François-Xavier Roth
Der Abgang des Kölner GMDs sorgt für Umbesetzungen – Klassik am Rhein 09/24
Barock und Filmmusik
Open-Air-Konzerte „Viva Italia!“ im Ruhrgebiet – Klassik an der Ruhr 08/24
Exotische Musik
„Sounds of Nature“ und „Diálogos de amor“ beim Niederrhein Musikfestival 2024 – Klassik am Rhein 08/24
Pop-Hit trifft düstere Rarität
Semesterkonzert an der RUB – Klassik an der Ruhr 07/24
Akademische Bürgernähe
Michael Ostrzyga dirigiert „Elias“ in Bergheim und Köln – Klassik am Rhein 07/24
Bruckners „verfluchte“ Neunte
„Von Herzen – Letzte Werke“ in Bochum – Klassik an der Ruhr 06/24