Eine mächtigere Gestalt als King Kong, der mit den Wolkenkratzern Kegeln spielt, hat das Kino nicht hervorgebracht. Und trotzdem gesteht Alexander Kluge, einer jener Väter des Neuen Deutschen Films, mit dem das deutsche Kino wieder auf die Europäische Landkarte fand, dass er nicht an die Macht der Kinobilder glaube. „Schön wäre es, würde in einem Dunkelraum von vielen Seiten erzählt“, sagt er, und man meint den träumerischen Unterton dieses Geständnisses noch durch die Zeilen hören zu können. Ein Stückweit hat er sich diesen Traum nun mit „Kongs große Stunde“ erfüllt, ein Buch, wie wir es in Deutschland noch nicht gesehen haben. Obwohl es durchaus Vorläufer gab, wie Heinrich von Kleists „Berliner Abendblätter“ oder Johann Peter Hebels „Kalendergeschichten“, mit denen Kluge sogar sein leicht märchenhafter Ton verbindet, wenn er von der Welt da draußen und den Begebenheiten seines eigenen Lebens berichtet.
Boulevard nennt er diese Ansammlung von kurzen Texten, die das Leben so schrieb, dass sie eine Pointe ergeben, oder der Autor dieser vielleicht auch ein wenig nachgeholfen hat. Nur locker scheinen die Texte miteinander in Verbindung zu stehen, den Zusammenhang, das große Verlangen nach Sinn, müssen wir selbst herstellen. Insofern mag der ominöse Kong ein Synonym für unseren unstillbaren Wunsch sein, Dinge in Beziehung zu setzen. Aber keine Sorge! Hier ist kein experimenteller Poet zugange, der seine Ratlosigkeit hinter konfusen Formspielereien versteckt. Bei Kluge hat alles Hand und Fuß und es bereitet unglaubliches Vergnügen, ihm zu folgen, interessiert er sich doch schlichtweg für alles.
Mit „Reparaturerfahrungen“ geht es los. „Zahn ohne Raum“ ist der Text überschrieben, der von einer Zahnoperation des kleinen Alexander erzählt und schon mit seinem Titel augenzwinkernd auf weltgeschichtliche Operationen anspielt. Der Arzt erklärt, dass er Kleinigkeiten gründlich behandelt, damit nicht das ganze Gebiss auseinanderfällt. Hätte man so doch im Großdeutschen Reich gedacht. Die Wohltaten der Reparatur demonstriert Kluge vor allem anhand von Ehegeschichten, die sich so anschaulich lesen, als würde man einen Film schauen. Lebenskluge Frauen demonstrieren, wie Zerwürfnisse und psychisch angeschlagene Männer wieder Teil eines Familiengebildes werden können. Alexander Kluges Eltern ist das nicht gelungen, für sie war die Scheidung unausweichlich. Erst allmählich wird klar, dass hier jemand seine Biografie präsentiert, nur mischt Kluge die persönlichen Anekdoten so beiläufig unter den Strom der Ereignisse, dass intime Details nicht peinlich, sondern aufschlussreich werden.
Immer wieder sind es Arztgeschichten und Liebesgeschichten, die eine eigene Dramatik in das Konvolut bringen. Aber es gibt auch Ausflüge in die Historie, die Philosophie, den Krieg, die Oper, Freundschaftsanekdoten, die Neurologie oder den Blick auf die Affen oder die Geschichte der Familie Mann. Hier wird ein Formprinzip demonstriert, man schlägt das Buch an irgendeiner Stelle auf, und sofort entwickelt es seine innere Spannung. Eins verlangt nach dem anderen und schon beginnt man nach vorne oder hinten weiterzulesen. Ein Buch, mit dem man nie an ein Ende kommt, das man in zehn Jahren noch aus dem Regal nehmen wird und sofort gepackt ist, vom genauen und stets ein wenig amüsiert klingenden Ton, mit dem Kluge seine Fundstücke aus der Wirklichkeit vor uns ausbreitet.
Alexander Kluge: Kongs große Stunde | Suhrkamp | 680 S. | 38 €
Lesung: 10.3. 18 Uhr | Depot 1 | 0221 28 01
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