Alphabet
Österreich, Deutschland 2013, Laufzeit: 113 Min., FSK 0
Regie: Erwin Wagenhofer
>> www.alphabet-film.com
Gelungene Bestandsaufnahme einer veralteten Pädagogik
Falscher Stolz
„Alphabet“ von Erwin Wagenhofer
Der österreichische Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer hat sich in seinen zwei gelungenen Dokus „We feed the world“ und „Let’s make money“ mit den moralischen Verfehlungen und weitreichenden Krankheitsbildern unserer westlichen Zivilisation auseinandergesetzt. Nun stellt er sich die Frage: Wie kann das überhaupt passieren? Wo liegen die Wurzeln allen Unheils? Und so erscheint es nur konsequent, sich auf der Suche nach den Symptomen mit den westlichen Bildungssystemen auseinanderzusetzen. Genau das macht Wagenhofer mit „Alphabet“. Die Kinder sind die Zukunft, und so manche Kinder von einst sitzen heute in den Chefetagen skrupelloser Konzerne, sind Warlords am Schreibtisch im globalen ökonomischen Kampf. Das Fußvolk ist verängstigt, egoistisch, gedrillt durch Konkurrenz und Wettbewerb in der Angst- und Erwerbsgesellschaft.
Wagenhofer besucht Bildungseinrichtungen, spricht mit Hirnforschern, Pädagogen und Ausreißern. Er präsentiert die irrwitzigen Auswüchse einer veralteten, aber tief verankerten Pädagogik, die nur noch Leistungsträger hervorbringen möchte, konforme Maschinenmenschen, PISA-Gewinnler, stolze Mütter, stolze Väter. Seine Reise führt den Regisseur anfangs nach China, wo sich die Schüler in Mathe-Olympiaden messen. Bildungseinrichtungen, die weniger aufs Leben vorbereiten als vielmehr auf die Karriere. Die Vorbilder dazu findet man bei uns. Kreativität: Fehlanzeige. Phantasie: Wofür? Wagenhofers Eindrücke muten mitunter dystopisch an und spiegeln doch nur den Ist-Zustand. Auch Arno Stern beobachtet die Verkümmerung des menschlichen Potenzials. Seit sechs Jahrzehnten lädt der alte Mann Kinder ein zu seinen Mal-Orten. Wo sie sich kreativ ausleben, malen, sich selbst finden. Doch auch in dieser Oase macht der Fortschritt nicht halt. Die Kinder, die ihn heute besuchen, malen ungleich formelhaft. Kinder spielen nicht mehr, sie wägen nur noch ab, inwiefern sie Erwartungen erfüllen.
Es ist alles recht erschreckend, was Wagenhofer hier zusammenbringt, aber doch längst bekannt, zumindest im verdrängten kollektiven Bewusstsein. Der Film bietet einen gelungenen Überblick über den Status Quo, versammelt Meinungen und Fakten, wird dabei jedoch nicht didaktisch, versteift sich nicht auf Schuldzuweisungen. Erziehungswissenschaftler Sir Ken Robinson spricht zwar von einer systematischen Zerstörung unserer Fähigkeiten, fügt aber hinzu, dass dies nicht zwingend beabsichtigt vorangetrieben würde. Der Film ignoriert weitestgehend, dass sich so manche Schulen und Einrichtungen bereits öffnen und engagieren für alternative, kreativere Ansätze, die sich dem puren Leistungsdenken verwehren. Stattdessen kommt Thomas Sattelberger zu Wort, der überzeugt ist, dass man das Bildungssystem nur noch mit einem konsequenten Schritt zertrümmern kann. Es liegt an jedem selbst, resümiert aber Wagenhofer und zeigt auf, dass sich das Individuum selbst den Weg aus dem System suchen könnte. Wenn es nur will. Wenn es seine Eltern bloß wollten.
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