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Eine unbequeme Wahrheit
USA 2006, Laufzeit: 100 Min., FSK 0
Regie: Davis Guggenheim

1 Oscar für den besten Dokumentarfilm

Dem ehemaligen Vizepräsident unter Bill Clinton geht es nach seiner umstrittenen Niederlage gegen George W. Bush im Jahre 2000 nicht mehr nur um Führungs- und Machtansprüche gegenüber dem amerikanischen Volk: Er will die Erde nicht beherrschen, er will sie retten. Seit seiner Niederlage denkt er nicht mehr nur parteipolitisch, jetzt denkt er verantwortungsbewusst. Und Al Gore denkt noch weiter, nämlich global, und das führt ihn wieder direkt zurück ins eigene Territorium: zum amerikanischen Volk, das für Welterwärmung, Gletscherschmelze und Klimakatastrophen mit an vorderster Front verantwortlich zeichnet. Al Gore hat seine Vorträge bereits über 1000 Mal gehalten, jetzt finden sie mit der Übertragung auf die Kinoleinwand eine noch größere Plattform. "Pulp Fiction"-Produzent Lawrence Bender erahnte die Wichtigkeit von Gores Unterfangen und zugleich die Notwendigkeit, sie in viel größerem Umfang zu verbreiten: Der Vortrag ist "eine gute Basis für einen fantastischen Film". Mit Davis Guggenheim engagierte man einen Regisseur mit Fernseherfahrung und dokumentarischem Background. Den Rahmen seines Films bildet ein friedlich vor sich hinplätscherndes Flussbett, über das Al Gore aus dem Off seine Stimme erhebt und Mutter Natur huldigt. Und schon befindet man sich mitten in Gores Vortrag, den er auf seiner Infotainment-Bühne hält. Hinter ihm auf der Leinwand ergänzen Statistiken, Satellitenbilder oder Trickfilme die Ausführungen. Die One-Man-Show ist eine unterhaltsame Mischung aus Motivationsseminar, Erdkundeunterricht, Predigt und parteiübergreifender Wahlkampfveranstaltung. Gore wird dabei für den europäischen Geschmack mehr als einmal arg pathetisch, schwelgt wehmütig in Kindheitserinnerungen, zeigt sich sichtlich frustriert über zuviel Gleichgültigkeit und über die Macht von Lobbyisten und findet offensichtlich Gefallen an seinem rhetorischen Potential. Entscheidend aber ist, dass er die Anflüge von Selbstverliebtheit seinem Ziel klar unterordnet. Und damit weiß er die Dringlichkeit seines Anliegens hervorzuheben, ohne bloß mahnend und lehrerhaft zu sein. Der geläuterte Umweltaktivist teilt sich emotional mit und will nicht verschrecken, vermittelt zeitlimitierte Zuversicht statt Endzeitstimmung. Al Gore bewegt sich über Satellitenbilder der Erde vom Großen hin zum Kleinen, indem er im Abspann Vorschläge verankert, mit denen jeder Einzelne durch kleine Taten im Alltag zum Klimaschutz beitragen kann, sei es damit, den Stromverbrauch zu reduzieren oder indem man schlicht ein Bäumchen pflanzt. Nicht zuletzt diese Tipps machen sogar den Politiker Gore glaubwürdig. Am Ende des Films ist es gleichgültig, wie aufrichtig Gores Ambitionen sind. Es interessiert nicht, ob er sich noch einmal zu Präsidentschaftswahlen aufstellen lassen wird und sein Umwelt-Programm und dieser Film ihm dabei zuspielen werden. "Eine unbequeme Wahrheit" hat in den USA bereits über 20 Mio. Dollar eingespielt und ist damit bereits der vierterfolgreichste Dokumentarfilm der Kinogeschichte. Der Film regt die Zuschauer über den Kinosaal hinaus zu Diskussionen an und verändert ihre Sichtweise. "Ich glaube schon, dass sich da was entwickelt, dass man das Kino als ein anderes öffentliches Forum wahrnimmt", bemerkte Joachim Kühn vom Kölner Filmhaus Kino gerade erst in der Septemberausgabe von choices auf die Frage, ob Kino durch die gestiegene Präsenz von Dokumentarfilmen eine neue Funktion bekommt und zunehmend Aufklärungscharakter erhält. Im Gegensatz zu den deutschen Fernsehsendern entbehrt das Kino einen offiziellen Bildungsauftrag. Doch dem, so scheint's, entspricht das Kino zunehmend von ganz allein.

(Hartmut Ernst)

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