May December
USA 2023, Laufzeit: 117 Min., FSK 12
Regie: Todd Haynes
Darsteller: Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton
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Tragikomisches Melodram mit fantastischen Darstellerinnen
Seelische Abgründe erforschen
„May December“ von Todd Haynes
Die Schauspielerin Elisabeth (Natalie Portman) soll in ihrem nächsten Film eine Frau in den Dreißigern spielen, die eine Beziehung mit einem 13-jährigen Jungen eingeht. Für diese sehr ungewöhnliche Rolle möchte sich Elisabeth gut vorbereiten. Sie will Gracie, die Person, die als reale Vorlage für den geplanten Spielfilm dient, näher kennenlernen. Gracie (Julianne Moore) hatte vor über 20 Jahren im Alter von 36 Jahren eine Affäre mit dem 13-jährigen Joe, den sie in dem örtlichen Zoogeschäft kennengelernt hat. Der Fall machte seinerzeit große Schlagzeilen und Gracie wurde in dem anschließenden Gerichtsverfahren schuldig gesprochen. Was den Fall noch ein wenig irritierender macht: Seit ihrer Entlassung aus der Haft lebt Gracie mit dem inzwischen erwachsenen Joe (Charles Melton) und zwei gemeinsamen Kindern, die inzwischen auch fast erwachsen sind, zusammen. Elisabeth nimmt in Vorbereitung für ihre Rolle Kontakt zu Gracie auf, und die ist erstaunlicherweise sofort bereit, Elisabeth kennenzulernen, lädt sie sogar ein, die ganze Familie in ihrem opulenten Vorzeigehaus am See in demselben Ort der damaligen Ereignisse zu besuchen, um sich selber ein Bild zu machen. Mehrere Tage mietet sich Elisabeth in der Kleinstadt ein, in der sich vor 23 Jahren Gracie und Joe kennenlernten und in der sie nun ein scheinbar perfektes amerikanisches Familienleben leben. Dort trifft Elisabeth neben Gracies Familie sowie deren Freunden und Bekannten auch Gracies erste Familie, ihren Ex-Mann und deren gemeinsamen Sohn.
„May December“, eine englischsprachige Bezeichnung für ein Liebespaar mit sehr großem Altersunterschied, widmet sich wie schon zuvor Todd Haynes Kinofilm „Carol“ (2015) und seine Miniserie „Mildred Pierce“ (2011) angelehnt an ältere Melodramen Frauenfiguren, die versuchen, aus den ihnen zugedachten Rollen auszubrechen. Waren die beiden genannten Arbeiten auch in der Zeit angesiedelt, in der das Melodram seinen Zenit feierte, den 1930er bis 1960er Jahren, spielt „May December“ in der Gegenwart. Und widmete sich Haynes in den genannten Filmen Frauen, die als Opfer der Gesellschaft ihren eigenen Weg suchen, so ist in „May December“ Gracie vielleicht auch Opfer, aber sicherlich auch Täterin, wenn sie einen Minderjährigen verführt. Auch Elisabeths Recherchelust kippt langsam in eine fragwürdige Obsession.
Todd Haynes erkundet ein spannendes Beziehungsgeflecht aus schwer zu dechiffrierenden Persönlichkeiten und inszeniert Elisabeths Forschungsreise als klassisch-elegant gefilmtes Melodram. Andererseits dringt er in diesem Vexierspiel tief in die Faszination der Schauspielerei ein und zeigt, wie eine Person langsam mit der Psyche einer anderen verschmilzt und sich gar darin zu verlieren droht. Vor allem die beiden oscarprämierten Hauptdarstellerinnen Nathalie Portman und Julianne Moore geben diesbezüglich ein fantastisches Duo, das sich gegenseitig beäugt und die zwiespältige Faszination füreinander nicht verbergen kann. Haynes verweist in einer Spiegelszene mit Elisabeth und Gracie auf Ingmar Bergmans Film „Persona“ von 1966, in dem sich ebenfalls zwei Frauen zunehmend miteinander identifizieren. Tatsächlich gibt es weitere Parallelen, nicht zuletzt in der Selbstreflexion des Filmemachens, zum Beispiel in einer sehr schönen Szene, in der Elisabeth an einer Schule die Fragen der Kinder zur Schauspielerei beantwortet oder in schmonzettigen Spielfilmszenen zu Gracies und Joes Fall. Allerdings gibt es in „May December“ anders als bei Bergman auch viel Humor, der sich nicht nur aus der überdrehten Figur von Julianne Moore speist, um dann bald wieder ins Drama zu kippen, wenn Gracies Fassade Schicht für Schicht zu bröckeln beginnt. Elisabeth wiederum verheddert sich emotional immer mehr in diesem kleinstädtischen Dickicht aus unverarbeiteter Schuld und anhaltenden Begehrlichkeiten. Aber auch das hat seine komischen Momente. Spielerisch wechselt Haynes die Tonart, so wie er sie auch lustvoll melodramatisch überhöht. Ein irritierender und faszinierender Film.
(Christian Meyer-Pröpstl)
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