Red Rooms – Zeugin des Bösen
Kanada 2023, Laufzeit: 118 Min., FSK 16
Regie: Pascal Plante
Darsteller: Juliette Gariepy, Laurie Fortin-Babin, Elisabeth Locas
>> www.24-bilder.de/filmdetail.php?id=986
Aufwühlendes, intensives Psychodrama
Du bist böse!
„Red Rooms – Zeugin des Bösen“ von Pascal Plante
Ludovic Chevalier (erdrückend wortlos: Maxwell McCabe-Lokos) steht ein Prozess bevor: Ihm wird vorgeworfen, im Rahmen von Live-Events im Darknet drei Mädchen zu Tode gefoltert und zerstückelt zu haben. Chevalier sitzt im Gerichtssaal in einem Glaskasten und folgt dem Geschehen schweigend und unbeteiligt. Im Zuschauerraum: Kelly-Anne (Juliette Gariépy), die unweit des Gebäudes übernachtet, um sich an jedem Prozesstag einen Platz zu sichern. Während die Mutter eines der Opfer im Laufe des Verfahrens eine emotionale Tour de Force durchmacht, verfolgt Kelly-Anne die Eingangsplädoyers, die Anhörungen und die Beweisaufnahme mit kaltem Blick. Ein Blick, der immerzu Chevaliers Blick sucht. Draußen vor den Mikros der Presse begegnet sie der jüngeren Clementine (Laurie Babin), die Chevalier kategorisch verteidigt – Unschuldsüberzeugung statt bloß Unschuldsvermutung. Die beiden Frauen lernen sich kennen.
Ob „8mm“, „Tesis“ oder „Hostel“, ob Donna Leon-Krimi („Vendetta“) oder Michel Houellebecq-Roman („Elementarteilchen“): Das Feld rund um Snuff-Filme bzw. Live-Folterungen und -Tötungen vor einem zahlungskräftigen Publikum wurde in der fiktionalen Literatur und im Genrekino bereits mannigfach aufbereitet. Dieses Thrillerdrama setzt sich darauf, nimmt dabei aber eine neue Perspektive ein: Erzählt wird hier von zwei Prozessbesucherinnen bzw. Groupies, die sich zu dem Verdächtigen auf unterschiedliche Art und Weise hingezogen fühlen. Während die naive und vergleichbar einfach gestrickte Clementine dem Angeklagten noch plump verklärt verfällt und die Anklage gegen ihn erhitzt als Verschwörung umdeutet, bleibt Kelly-Anne undurchdringlich – und ungleich interessanter: Eine unterkühlte, intelligente Frau, die stoisch Fitnessprogramm und Modeljobs absolviert, die dem aufwühlenden Prozess emotionslos beiwohnt und daheim genüsslich ihre Gegner beim Online-Poker ausbluten lässt. Die im Internet detektivisch zum Prozess, zum Angeklagten, zu den Angehörigen und dem Darknet recherchiert. Eine voyeuristisch, narzisstisch, sadistisch getriebene Figur, die sehnlichst den Blickkontakt zu Chevalier sucht und sich im Leid der Hinterbliebenen suhlt. Eine Protagonistin ohne Empathie. Eine Frau, die Clementine als „böse“ bezeichnet. Eine Frau mit Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte enthält uns der kanadische Regisseur Pascal Plante vor, und Kelly-Annes Biografie wäre durchaus einen Film für sich wert. Hier indes bleibt die Protagonistin bis zum Schluss ungreifbar, und so mag sich erst im Nachgang des Films manche Motivation deuten lassen – psychotherapeutisch geschulte Zuschauer:innen hätten sicherlich Interessantes beizusteuern.
Plante erspart uns das Schlimmste. Die Snuff-Clips, die den Geschworenen als Beweismittel vorgeführt werden, rezipieren wir in einer Szene „nur“ aus dem Off – freilich heftig genug. Dennoch: Folterszenen sind, anders als bei anderen Genrevertretern, nicht expliziter Bestandteil dieses Dramas. Überhaupt: Der Film will mehr, will anderes, ist komplexer. Wie seine Protagonistin scheint auch der Film selbst schwer greifbar. Weil er einen Prozess um grauenvolle Morde vorschiebt, tatsächlich aber von einer Person erzählt, die weder als Täterin, Opfer, Angehörige noch als Polizistin in den Fall involviert ist. Ein besonderer Film, nicht zuletzt dadurch, dass er nicht das ist, was man erwartet. Der Snuff-Plot bildet hier bloß den Rahmen. Es geht nicht um Täter oder Opfer. Es geht um Kelly-Anne. Um eine Außenstehende. „Red Rooms“ ist ein schauerlicher, intensiver, hypnotisch auf die Leinwand gebannter (Kamera: Vincent Biron) Psychothriller mit Horror-Elementen. Die spannungsvoll aufgeladene Geschichte einer psychologisch auffälligen Frau, die aus verstörenden Motiven heraus einem Prozess beiwohnt. Die Groupie ist, Voyeurin, True Crime-Fan. Und noch mehr. Eine Protagonistin, der man im Nachgang angeregt nachrätselt. Und die darüber rätseln lässt, wo man selbst steht in Zeiten von Online-Voyeurismus und allseits beliebten True Crime-Formaten.
Verstörend gut.
(Hartmut Ernst)
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Ein letzter Blick von unten
„Vom Ende eines Zeitalters“ mit Filmgespräch im Casablanca Bochum
Grusel und Begeisterung
„Max und die wilde 7: Die Geister Oma“ mit Fragerunde in der Schauburg Dortmund
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Kölner Filmpalast – Foyer 04/24
„Ich mag realistische Komödien lieber“
Josef Hader über „Andrea lässt sich scheiden“ – Roter Teppich 04/24
„Kafka empfand für Dora eine große Bewunderung“
Henriette Confurius über „Die Herrlichkeit des Lebens“ – Roter Teppich 03/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
Bezeugen, was verboten ist
NRW-Kinopremiere: „Green Border“ von Agnieszka Holland mit Vorgespräch
„Man kann Stellas Wandel gut nachvollziehen“
Jannis Niewöhner über „Stella. Ein Leben.“ – Roter Teppich 02/24
Nosferatu – Der Untote
Start: 2.1.2025
Queer
Start: 9.1.2025
September 5
Start: 9.1.2025
We Live In Time
Start: 9.1.2025
Armand
Start: 16.1.2025
Like A Complete Unknown
Start: 27.2.2025
Das kostbarste aller Güter
Start: 6.3.2025