Katrin Gebbe, Jahrgang 1983, hat nach ihrem Kunststudium in Enschede und Boston in Hamburg Regie studiert und zahlreiche Kurzfilme gedreht. Ihr Langfilmdebüt „Tore tanzt“ erntete im Frühling in Cannes gleichermaßen Buh-Rufe und Applaus.
engels: Frau Gebbe, wie sehen Sie das Verhältnis im Film zwischen Realismus und Abstraktion?
Katrin Gebbe: In der Drehbuchentwicklung kam irgendwann der Punkt, an dem wir beschlossen haben, uns vom Sozialdrama zu entfernen, um den Film größer zu machen. Es sollte nicht mehr diese eine Begebenheit im Vordergrund stehen, sondern durch Abstraktion das Nachdenken über zentrale philosophische Fragen angeregt werden. Wir sind ins Extrem gegangen, aber alles bleibt erklärbar.
Der Film ist grundsätzlich anders als die meisten deutschen Filme, ohne dass man den Grund direkt benennen könnte. Er wirkt eher wie ein amerikanischer Independent-Film ...
Wir hatten ein tolles kreatives Team, mit großartigen Künstlern in jedem Department. Ziel war es, eine eigene Sprache für den Film zu finden. Wir wollten uns von Sehkonventionen befreien. Zum Beispiel das Schrebergarten-Häuschen sieht nicht aus wie in einem TV-Krimi, sondern vielmehr wie die Bungalows in Australien. Hier fühlt auch Tore sich wohl.
Für die Bildgestaltung haben der Kameramann Moritz Schultheiß und ich versucht, die Welt mit Tores lebendigen Augen zu sehen, er sucht selbst im Hässlichen das Schöne.
„Tore tanzt“ wird immer wieder mit „Breaking the Waves“ verglichen. Während es dort vor allem um Religion geht, scheint mir Tore tanzt auch an anderen gesellschaftlichen und psychologischen Fragen interessiert ...
Ich habe sehr viel zum Thema Täter und Opfer recherchiert. Besonders spannend war, neben psychologischer Fachliteratur, auch die Philosophie von zum Beispiel Nietzsche und ganz besonders Girard. Der hat viel über den Sündenbockmechanismus geschrieben: Den gibt es in der Bibel, überall in der Weltgeschichte und in jedem Klassenzimmer. Die Frage, wie Gewalt entsteht, hat mich sehr interessiert, gleichzeitig aber auch die Konfrontation mit Idealismus – in diesem Fall Tores Glaubenssätzen.
Wie erklären Sie sich, dass ihr Film die Zuschauer so sehr polarisiert?
Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass man beim Zuschauer den Kern getroffen hat. Wir wollten ja auch provozieren und damit Fragen aufwerfen. Es ist provokant zu erzählen, dass das Opfer ein männlicher Erwachsener ist, der die Auseinandersetzung mit Benno und dem Bösen bewusst eingeht und das Ganze als seine Prüfung ansieht. Er opfert sich für einen Menschen, die Liebe und sein Ideal. Aber er ist eben nicht nur Opfer, er ist Kämpfer, Mitentscheider. Ich denke, einige Zuschauer fühlen einen Angriff auf ihre wie auch immer gearteten Glaubenssätze und wollen sie verteidigen. Sie gehen einen Dialog ein. Und dann wird auch mal zurückgeschossen. Manche machen es sich dann einfach und behaupten, Tore sei ein Idiot. Oder, dass die Geschichte nicht glaubwürdig ist. Und genau darüber wollten wir mit dem Zuschauer sprechen.
Vor allem Ihr Hauptdarsteller Julius Feldmeier ist herausragend. Er dominiert und prägt mit seiner Figur den Film. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?
Wir haben lange gesucht, sogar im Ausland, als wir plötzlich ein Interview mit Julius entdeckten. Er sah aus wie ein Engel und strahlte in die Kamera. Am Telefon merkte ich bereits, wie intelligent und reflektiert er über die Geschichte sprechen konnte, und bei den ersten Proben war ganz schnell klar: Er ist absolut glaubwürdig, talentiert und mutig.
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