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J.M. Coetzee
© Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

Eine Fantasie

13. Juli 2023

„Der Pole“ von J.M. Coetzee – Textwelten 07/23

Lange bevor #metoo um die Welt ging, stieg der Südafrikaner J.M. Coetzee 1999 tief in die Realität dieses Phänomens hinab: In seinem Roman „Schande“ beschrieb der spätere Literaturnobelpreisträger meisterhaft die subtilen, aber fundamentalen Nuancen, die Missbrauch von Liebe unterscheiden. Jetzt legt er mit 81-Jahren einen schmalen, überaus pointierten Roman mit dem Titel „Der Pole“ vor, der als Liebesgeschichte annonciert wird. Ob es sich tatsächlich um Liebe bei dem ungleichen Paar handelt, das uns Coetzee vorstellt, mag dahingestellt sein.

Seine Geschichte beginnt unspektakulär. Es ist ein übliches Ritual im Kulturbetrieb, dass man sich nach einer Lesung mit der Autorin oder dem Autor zum Essen trifft. Hier handelt es sich um das Konzert eines Chopin-Interpreten in Barcelona, das Beatriz organisiert hatte, und das der spröde polnische Pianist eher maulfaul in ihrer Gesellschaft verbrachte. Umso erstaunter ist Beatriz, die den Abend schon fast vergessen hat, als sich der Pianist in einer Mail meldet, um sie zu einem seiner Konzerte einzuladen. Sie lehnt ab. Er fasziniert sie nicht als Person und die Tatsache, dass er ein sichtlich alter Mann ist, lässt ihn auch nicht attraktiver erscheinen. Aber der Pole bleibt hartnäckig. Wie ein schleichendes Gift regt seine Werbung – die auch deshalb ihre Wirkung erzielt, weil sie eher sachlich gehalten ist – Beatriz‘ Neugierde an. 

Das Raffinement des Romans besteht in J.M. Coetzees Entscheidung, die Geschichte komplett aus Beatriz‘ Perspektive zu erzählen. Wir beginnen, uns in ihrem Gedankenstrudel zu verfangen. Denn sie, die wohlhabende Ehefrau eines kultivierten, aber erotisch uninteressierten Mannes, beginnt ihr Selbstbild zu befragen. Wie wirkt sie? Was wünscht sie sich? Dem Polen gibt sie knallhart zu verstehen, dass sie keine Liebe für ihn empfindet. Und dennoch geht sie unaufhörlich auf ihn zu. Coetzee zeigt, wie Beatriz mit ihrem eigenen Begehren konfrontiert wird, gerade weil ihr Gegenüber kein Adonis ist. Darüber färbt sich die Geschichte immer dunkler. Nie kann man den nächsten Schritt voraussehen. Spannend ist der Roman auch, weil hier keinerlei Abhängigkeiten bestehen und dennoch das Irrationale seinen Tribut fordert.

J.M. Coetzee: Der Pole | A. d. Engl. v. Reinhild Böhnke | S. Fischer Verlag | 144 Seiten | 20 €

Thomas Linden

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