Verschrobene Menschen in pittoresker Umgebung – so lieben wir Deutschen das englische Landvolk. Rosamunde Pilcher, Inspector Barnaby und dem ZDF sei dank. Regisseur Thomas Weber-Schallauer hat in Gelsenkirchen Benjamin Brittens einzige komische Oper auf die Bühne gebracht und spielt dabei ausgiebig mit den beliebten England-Klischees.
Was wäre die bezauberndste Idylle ohne Schönheitsfehler? Reichlich langweilig. So beharken sich selbst im Trivialen manch böswillige Spießer hinter akkuraten Gartenzäunen. Doch am Ende ist die Welt stets wieder in Ordnung. Benjamin Britten teilte solchen Hang zur Schönfärberei zweifellos nicht. Seine Opern drehen sich oft um Außenseiter wie Peter Grimes, mit denen es kein gutes Ende nimmt. Ein einziges Mal unternahm Britten 1947 mit „Albert Herring“ einen Abstecher ins Genre der komischen Oper. Die literarische Vorlage lieferte Guy de Maupassants Novelle „Der Rosenstock der Madame Husson“, die Brittens Librettist Eric John Crozier von Frankreich an die Küste von Suffolk verlegte – und von den allzu tragischen Details befreite. Das Ende, welches Albert Herring nimmt, ist dennoch eine Art Anti-Happy-End.
Für einen Anti-Helden wie Albert ist das nur konsequent. Der Junge steht völlig unter Fuchtel seiner Mutter, die den Gemüseladen im Dorf betreibt. Und das ganze Dorf steht unter der Fuchtel von Lady Billows und ihrem Sitten-Komitee. Die sittenstrenge alte Hexe hat ausgerechnet den armen Albert zum Tugendbolzen auserkoren und krönt ihn – als ultimative Demütigung – zur ersten männlichen Maikönigin. Wie gut, dass Albert in Sid und Nancy noch echte Freunde hat, die ihm Rum in die Limonade mischen und somit dafür sorgen, dass sich Albert am Ende aller moralischer Fesseln entledigt.
Genügend Ansatzpunkte für eine beißende Satire bietet Brittens Kammeroper allemal. Und Regisseur Weber-Schallauer zeigt ebenfalls ein paar schöne Ansatzpunkte dazu. Etwa, wenn Mutter Herring von einer hohen Treppe in den Laden schreitet, während der Sohn aus einer Bodenklappe kriechen muss. Leider belässt es die Regie überwiegend beim subtil Amüsanten und verlässt sich auf die Wirkung des Dekors – der wirkungsvollen Bühne von Britta Tönne und der gelungenen Kostüme von Martina Feldmann.
Musikalisch hat diese Produktion weitaus mehr zu bieten. Der erste Kapellmeister Valtteri Rauhalammi hat mit der überschaubaren Besetzung von 13 Sängern und 12 Instrumentalisten im Orchester eine mustergültige Aufführung auf die Beine gestellt, in der alle Feinheiten der geistreich-humoristischen Partitur zur Geltung kommen. Mit Mark Murphy ist die Partie des Albert passgenau besetzt. Sein junger lyrischer Tenor spiegelt die Schüchternheit des Unschuldslamms sehr gut wider, hat aber auch das Potenzial, im zweiten Akt ordentlich aufzudrehen. Noriko Ogawa-Yatake gibt die herrische Mutter mit resolutem Charme. Karen Fergurson singt als Lady Billows eine schöne Partie, wirkt letztlich aber deutlich zu liebenswert.
„Albert Herring“ | R: Thomas Weber-Schallauer | Musiktheater im Revier
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