Die traurigen Liebesgeschichten sind die schönsten. Erst mit der Trauer spürt man das ganze Gewicht der Liebe. Wer liebt, weiß um den Verlust. Aber was ist, wenn jemand gestorben ist, lebt dann die Liebe weiter? In Michael Kumpfmüllers neuem Roman „Wir Gespenster“ ist das so, ein wunderbarer Trost in einer zutiefst melancholischen Geschichte. Lilli ist des Nachts in einem Park ermordet worden. Eine Tatsache, die sie erst allmählich zu verstehen beginnt, als sie Andrä begegnet. Der kam als Kriminalbeamter vor zehn Jahren bei einem Einsatz gewaltsam zu Tode. Die beiden sehen, wie die Lebenden mit den Geschehnissen zurechtzukommen versuchen. Kontakt können sie mit ihnen nicht aufnehmen und dennoch versuchen sie auf ihre Weise, den Mord aufzuklären.
Michael Kumpfmüller besitzt das Format für die großen menschlichen Themen Liebe und Tod, das hat er meisterhaft in seinen Romanen „Die Herrlichkeit des Lebens“ über Franz Kafkas letzte Liebe und „Durst“, den Tod zweier Kinder, bewiesen. Man ist neugierig darauf, wie Kumpfmüller die Welt der Gespenster auskleiden wird. Die Basis schafft er mit einem elegischen Erzählton, der von einem freundlichen Sehnen getragen ist, mit dem alles Vergängliche noch wertvoller erscheint. Lilli ist ruhelos auf der Suche nach ihren Erinnerungen und der Frage, welche Person sie war. Andrä hat diese Phase schon hinter sich, steht Lillis Unrast mit einer Fürsorglichkeit zur Seite, aus der die Liebe erwächst.
Die Geister sind viel unterwegs, zumeist mit dem Bus, sie suchen sich gemeinsame Schlafplätze, an denen die Lebenden offene Türen hinterlassen haben, sonst bleiben sie gefangen. Auch unter den Geistern gibt es eine Gesellschaft mit Freunden und Selbsthilfegruppen und sie leben nicht ewig. Irgendwann verlöschen sie, das ist eine Sorge, die unheilvoll über dem Paar schwebt. Die Kriminalstory dient als Folie für eine zarte Beziehungsgeschichte, in der eine Vergangenheit verarbeitet wird, die hingenommen werden muss, weil sie nicht zu ändern ist. Wie gelingt uns das? Mit dieser Kernfrage, die vor jedem Tod steht, konfrontiert uns Kumpfmüller. Wie aus einem Guss liest sich dieser Ausflug zu den Geistern, die vielleicht die besseren Menschen sind.
Michael Kumpfmüller: Wir Gespenster | Verlag Kiepenheuer & Witsch | 246 S. | 24 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Begegnung auf einer Schifffahrt
Julia Wolff liest im Skulpturenpark
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24
Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24
Wie geht Geld?
„Alles Money, oder was? – Von Aktien, Bitcoins und Zinsen“ von Christine Bortenlänger und Franz-Josef Leven – Vorlesung 09/24
Zerstörung eines Paradieses
„Wie ein wilder Gott“ von Gianfranco Calligarich – Literatur 09/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Ein Quäntchen Zuversicht
Düstere, bedrohliche Welten mit kleinem Hoffnungsschimmer – ComicKultur 09/24