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Giorgio Chiesura: Bindeglied zwischen Pasolini und Levi
Foto: © Marsilio Editori

Ohnmacht der Bilder

29. Juni 2017

Die Entdeckung der bizarren Liebesgeschichte eines Fotografen – Textwelten 07/17

Die digitale Technik hat uns eine Flutwelle von Bildern beschert, aber die Frage der analogen Fotografie, was ein Foto über die Welt mitteilen kann, ist aktuell geblieben. Pier Paolo Pasoloni war einer der ersten und radikalsten Kritiker einer Konsumgesellschaft, die den Besitz von Waren und Sex verspricht und die Menschen dann mit Bildern über ihr Ausbleiben zu trösten versucht. Pasolinis Generation entstammte auch Giorgio Chiesura. Der Venezianer hatte sich 1943 als ehemaliger Soldat freiwillig den deutschen Besatzern gestellt, da er keine Waffe mehr in die Hand nehmen wollte. 19 Monate brachte er in den Lagern Osteuropas zu, bis er wieder in seine Heimat gelangte. Dort feierte man die Partisanen, sein Pazifismus taugte hingegen nicht als Akt heroischer Bewunderung. Bis 1968 war Chiesura als Staatsanwalt tätig und schrieb bemerkenswerte Gedichte, Tagebücher sowie den Roman „Hingabe“, der 1990 erschien. Monika Lustig übersetzte den Text mit großer Präzision für den Secession Verlag, der ihn im deutschen Sprachraum präsentiert, wo er noch auf seine eigentliche Entdeckung wartet.

Der Erzähler ist ein ehemaliger Auschwitz-Häftling, Mitglied des Sonderkommandos, das die Körper der Ermordeten in die Öfen zu schaffen hatte. 1945 zieht er sich auf das norditalienische Landgut seiner Familie zurück, deren Erbe ihm allein zur Verfügung steht. Wie der antike Marsyas, dem Apollon die Haut abgezogen hat, kann er andere Körper nicht mehr berühren. Eines Tages kommt eine Bäuerin auf das Gut, die ihm ihre Enkelin Antonia als Magd zum Verkauf aufdrängt. Das Mädchen fasziniert ihn und da er sie nicht berühren kann, beginnt der Erzähler Antonia zu fotografieren. Chiesura schildert den Versuch der Besitznahme durch das Bild. Der Mann fotografiert das Mädchen nackt in den Wäldern, auf dem Hof, im Haus, auf dem Tisch. Tausende von Fotografien entstehen, mit denen bald die Wände dicht bestückt sind. Die Sucht nach Bildern, wie sie heute mit dem Angebot des Netzes offenbar wird, findet sich detailliert beschrieben. Chiesuras Roman rutschte in der Öffentlichkeit ins Fach der erotischen Literatur, wo er aber nicht hingehört. Gerade in seinen zum Teil expliziten Beschreibungen spekuliert der Text nicht mit der sexuellen Erregung seiner Leser, sondern thematisiert das Misslingen einer Liebesbeziehung.

Der Fotografie steht nur die Oberfläche des Körpers zur Verfügung, aber was spielt sich darunter ab? Wie bekommt man das Denken und Fühlen zu Gesicht? Chiesuras Roman wird zur großartigen Parabel für das Scheitern der Bildmedien, und erzählt dabei doch leidenschaftlich vom Abenteuer der Hingabe, mit der die Fotografie die Schönheit des Körpers feiert. Als Antonia plötzlich verschwindet, zeigt sich, dass das Objekt der Betrachtung Entwicklungen vollzogen hat, die dem Fotografen beim Blick durch sein Objektiv verborgen geblieben sind. Konsequent zieht der Roman seinen Handlungsbogen bis ins Finale. Ein Text, der zu den interessantesten Entdeckungen der letzten Jahre gehört. Stellt er doch im Nachhinein das Bindeglied zwischen den Werken Pier Paolo Pasolinis und Primo Levis her. Und das, gerade weil er sich auf die Ambivalenz der Fotografie als eines Mediums der Dokumentation einlässt, das manchmal die Wahrheit eher verdeckt als dass es sie offenbaren würde.

Giorgio Chiesura: Hingabe | Aus dem Italienischen von Monika Lustig | Secession Verlag | 244 S. | 23,95 €

Thomas Linden

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