Eigentlich sollte es selbstverständlich sein: Wenn man die Gelegenheit erhält, einen der großen zeitgenössischen amerikanischen Schriftsteller persönlich zu interviewen, hat man dessen aktuelles Werk gelesen. Doch der Verlag hält es für erforderlich, explizit auf diesen Wunsch des Autors hinzuweisen. Wer das neue 790-Seiten-Werk gelesen hat, kann sehr schnell erkennen, dass Irving mit so manchem Typus Journalist ein Hühnchen zu rupfen hat, denn seine Hauptfigur ist ein Autor, der auf schlecht vorbereitete Kritiker ebenso trifft wie auf Literaturgroupies. Man fährt also mit mehreren Seiten vorformulierter Fragen und seinem mit Post-Its gespickten Buch nach Hamburg, wo Irving vor seiner ausverkauften Lesung im Thalia-Theater bereitwillig über die Entstehung seines neuen Romans spricht.
Von der Müllkippe in den Zirkus
Der Literaturbetrieb und das Spiel mit autobiografischen Anspielungen stehen allerdings nicht im Vordergrund der Geschichte, sondern zwei Kinder, die auf einer mexikanischen Müllkippe aufwachsen und die es in einen Zirkus verschlägt. In einen Zirkus, dessen Hauptattraktion die Himmelsleiter, ein Hochseilakt ohne Netz, ist. Irving-Fans erinnern sich unweigerlich zurück an seinen vor 11 Jahren auf Deutsch erschienenen Indien-Roman „Zirkuskind“. Im Gespräch verrät Irving, dass die Idee sogar noch viel weiter zurückliegt: „20 Jahre lang war diese Geschichte bloß ein Drehbuch. Es sollte ein Film werden, nie ein Roman. Es existierte bevor ich die Arbeit an ‚Zirkuskind‘ aufnahm. Ich hatte schon zwei Drehbücher über Kinder in indischen Zirkussen geschrieben, bevor ich jemals nach Indien gereist bin. Im Winter 1990 verbrachte ich dann erstmals einen gesamten Monat mit dem Great Royal Circus in Ahmedabad. Die Recherche über Kinderartisten führte den Regisseur und mich nach Mumbai. Wir besuchten Jesuitenschulen und Waisenhäuser, denn ich wusste um die Herkunft der Kinderartisten: Sie kommen aus armen und unterprivilegierten Verhältnissen. Das Ganze war also schon 1988, 1989 ein Drehbuch. Die Jesuiten spielten bereits eine Rolle, der Junge war bereits ein Krüppel - wenn auch durch einen Elefanten verletzt, nicht durch einen Mülllaster. Seine jüngere Schwester war bereits hellsichtig veranlagt, sie konnte die Gedanken von Menschen und Tieren lesen – und einer der Missionare war bereits schwul und er würde wegen der Liebe zu einem Mann an seiner Berufung scheitern.“
Von Indien nach Mexiko
Sieben Jahre lang entwickelt sich die Geschichte in Indien, bis Regisseur und Autor diesen Plan verwerfen: „Die indische Regierung war sehr kompliziert in der Zusammenarbeit und so verlegten wir 1997 die Geschichte nach Mexiko.“ Die richtige Wahl, wie Irving schnell feststellt: „Als ich zum ersten Mal Oaxaca besuchte, die Kinderartisten in Mexikanischen Zirkussen sah, einen Blick in Waisenhäuser warf und zum ersten Mal auf die ‚ninos de la basuera‘, die Müllkippenkinder, traf, als ich die Feuer schwelen sah… – alles an der Story war besser, glaubwürdiger, wahrhaftiger in Mexiko.“ Martin Bell und Irving wünschten sich, von Beginn an Mexiko ins Auge gefasst zu haben, denn „in beiden Fällen wussten wir von den Kinderartisten. Und zwar von Martins Frau, der Fotografin Mary Ellen Mark. Ich hatte bereits Fotos von Kinderartisten in Indien und Mexiko gesehen. Und aufgrund der Intensität dieser Fotos und in dem Bewusstsein, dass diese Kinder aus ärmlichsten Verhältnissen kommen, könnte man glauben, dass der Zirkus ihnen die Chance auf ein besseres Leben böte. Aber so ziemlich das einzige, was mexikanische und indische Zirkusse gemeinsam haben: Die meisten haben kein Sicherheitsnetz. Daher gehen alle Artisten hoch unter der Kuppel ein großes Risiko ein, insbesondere die Kinder. Und dieses Thema, Kinder in Not oder Gefahr interessierte mich. Der Film – den wir immer noch drehen wollen – wird bleiben, was er von Anfang an sein sollte: Wir schreiben das Jahr 1970, Juan Diego ist 14 und Lupe ist 13 – nicht mehr als die Story dieses einen Jahres ihrer Kindheit. Bis zu dem Moment, in dem Juan Diego mit Senor Eduardo und Flor Mexiko verlässt. Das wird das Ende des Films sein.“
Vom Drehbuch zum Roman
„Aber eines Nachts zwischen Weihnachten und Neujahr 2008/2009, 20 Jahre, nachdem Martin und ich die Arbeit aufgenommen hatten, erkannte ich plötzlich, wie die Geschichte gewinnen würde, wenn sie zunächst ein Roman wäre und erst dann ein Film. Was die Story zum Roman machte, war der Verlauf von Zeit“, erläutert Irving seinen Sinneswechsel. „Romane sind sehr gut geeignet, das Verstreichen von Zeit darzustellen. Filme können das weniger gut, Filme wirken am besten, wenn sie nur ein kleines Zeitfenster beleuchten, sonst muss viel getrickst oder mit unterschiedlichen Schauspielern für eine Rolle gearbeitet werden. Ich sagte also zu Martin: ‚Wenn das ein Roman wäre, würde ich ihn 40 Jahre später beginnen lassen, wenn Juan Diego sich auf dem Weg zu den Philippinen befindet, um das Versprechen einzulösen, das er dem Gringo in der Badewanne gegeben hat.‘ Er macht diese Reise wirklich und erst wenn wir ihn als älteren Mann erleben, können wir wirklich verstehen, wie viel wichtiger seine Vergangenheit für ihn ist als die Gegenwart. Um wieviel lebendiger er mit 14 in Mexiko ist als er jemals als Erwachsener sein würde, halb schlafend, von Medikamenten benebelt, sich der Umwelt kaum bewusst. Er ist 54 Jahre alt, doch seine Bewegungen sind die eines 74-Jährigen oder sogar 84-Jährigen. Wir würden sehen, dass sein Erwachsenenleben wie in Zeitlupe, wie ein Traum verrinnt, wohingegen die ganze Kindheitsstory klar fokussiert und rasant abläuft. Da war mir klar, dass ich nur darstellen kann, wie verheerend, wie lebensverändernd Kindheitserlebnisse für einen Charakter sein können, wenn wir ihm als älterem Menschen begegnen.“
Wundern über Wunder
Religion und Wunder spielen auch in Irvings neuem Roman eine zentrale Rolle. Dabei unterscheidet er sehr klar zwischen der Idee der Religion und dem institutionalisierten Glauben. Eine seiner Figuren, ein inbrünstiger Marienverehrer, sagt im Augenblick eines wahrhaftigen Wunders zu zwei Priestern, auf eine Marienstatue deutend: „Für sie bin ich hierhergekommen, nicht für Euch!“ Diese Differenzierung liegt Irving sehr am Herzen: „Ich denke, Rivera spricht in diesem Moment für eine Menge guter Katholiken. Sie sind für das Wunder dort. Sie sind keine Gläubigen wegen der Institution Katholische Kirche, sondern wegen der Wundergeschichte dahinter. Wegen der Jesus-Maria-Geschichte. Man kann keine große Kirche oder Moschee oder Synagoge betreten und sie leer vorfinden. Irgendjemand ist immer da. Irgendjemand betet immer für irgendetwas. Die Menschen wenden sich nicht an den Rabbi oder den Mullah oder den Priester, sie gehen zur Quelle, sie bitten das eigentliche Wunder, ihnen zu helfen. Mohammed ist ein Wunder. Jesus und Maria sind ein Wunder. Das lieben die Leute, das macht sie zu Gläubigen. Nicht die immer rückwärtsgewandte, immer langsame und immer enttäuschende Institution des Glaubens. Es sind nicht die Institutionen, an die Menschen glauben. Selbst als Kinder sind Juan Diego und Lupe misstrauisch gegenüber der Kirche, wie die Katholiken 200 Jahre verstreichen ließen, bis sie Guadalupe als eine ihre Jungfrauen zu akzeptieren beschlossen. Selbst diese Kinder macht das argwöhnisch. Und als älterer Mann steht Juan Diego dem Vatikan und diversen Päpsten für ihre Politik und Strategien kontrovers gegenüber. Die von Menschenhand geschaffenen Regeln der Kirche sind es, gegen die er sich stellt. Aber er verdankt der Jungfrau Maria sein Leben. Es gibt da diese Stelle sehr früh im Buch, wo ich sage, dass die Müllkippenkinder Gläubige sind. Es ist kein Geheimnis, dass in jeder der großen Weltreligionen Armut und Glaube Hand in Hand gehen. Sie sind sehr eng miteinander verbunden. Aus den denkbar schlechtesten Bedingungen heraus entsteht das größte Bedürfnis nach Wundergeschichten. Es ist kein Zufall, dass so viele Menschen aus ärmlichen Verhältnissen tief gläubig sind.“
Vom Schreiben und darüber Reden
Irvings Augen funkeln, der 74-Jährige ist körperlich und mental weit entfernt vom Helden seines neuen Romans, der den öffentlichen Auftritt scheut. Dabei ist er sich der Rolle, die er einnimmt, sehr bewusst: „Es wäre kein Vergnügen, mit mir zu sprechen, wenn ich nicht den Anschein erweckte, das zu mögen. Wenn ich hier wie Juan Diego säße und nur nickte, wenn ich nicht mit Begeisterung über mein eigenes Buch spräche, würdest du dich fragen, warum du die Mühen auf Dich genommen hättest, zu kommen und mit mir zu sprechen. Ich erkenne an, dass das Teil des Berufes Schriftsteller ist. Aber ich fühle sehr wie Juan Diego, dass ich eigentlich lieber Bücher schriebe, als über sie zu reden. Als die englischsprachige Auflage des Romans erschien, war er für mich schon ein Jahr alt und ich hatte längst damit begonnen, etwas anderes zu schreiben. Ich habe dann 6 Wochen, rund 2 Monate in den USA und Kanada über das Buch gesprochen. Dann habe ich es im Januar und Februar in Großbritannien vorgestellt, in den skandinavischen Ländern und den Niederlanden. Gar nicht zu reden von den ganzen Leuten, die seit November bis jetzt nach Toronto gereist sind, um mich dort zu interviewen – aus den verschiedensten Ländern. Diese Reise nun habe ich vor zwei Wochen in Spanien begonnen, in Madrid und Barcelona, ich war eine Woche lang in Paris, kam am Samstag nach Berlin und werde morgen in München sein, nächsten Samstag in Zürich, bevor es dann wieder zurück nach Kanada geht. Und schließlich werde ich im November 2016 nach Mexiko reisen, nach Guadalajara, Oaxaca und Mexiko City, zwei Wochen lang. So vergeht das Jahr – und ich bereise ja bei weitem nicht alle Sprachräume, in die der Roman übersetzt wurde. Ich greife mir nur ein paar wichtige heraus. Die Hälfte oder gar drei Viertel der Einladungen lehne ich ab. Ich fahre nicht nach Litauen, ich reise nicht nach Tschechien, nicht nach Polen, nicht nach Italien, nicht nach Finnland, nicht nach Dänemark, nicht nach Schweden – eine Menge Orte, an die ich sonst oft reise. Aber ich schreibe. Ich bin dabei, etwas Neues zu schreiben. Seit lange vor der ersten Veröffentlichung dieses Buches. Es ist schwer, immer wieder die Arbeit zuhause auf dem Schreibtisch in Toronto zu unterbrechen.Das ist alles. Cause I’m never not writing something. Never.“
John Irving: Straße der Wunder | Dt. von Hans M. Herzog | Diogenes | 784 S. | € 26
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