Es gibt Bücher, die schneiden einem so tief ins Herz, dass man sie nicht mehr vergessen kann. Wer Peggy Parnass‘ schmales Büchlein mit dem simplen aber durchdringenden Titel „Kindheit“ gelesen hat, bleibt nicht unberührt von der Geschichte des Mädchens, das seine Mutter verliert und über diesen Verlust ein Leben lang nicht mehr hinwegkommt. Eine bittere Tatsache, der Untertitel verkündet dann den guten Teil im Schrecklichen, wenn es da heißt: „Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete“. 1934 wurde sie in Hamburg geboren, 1939 arrangierte die Mutter für sie und ihren ein Jahr jüngeren Bruder die Übersiedlung nach Schweden. Sie selbst begleitete den Vater, der polnisch-jüdischer Abstammung war, auf den Transport nach Treblinka, wo die beiden ermordet wurden. Die Kinder schob man sechs Jahre durch 12 Pflegefamilien, ein Onkel holte sie nach England, wo der kleine Bruder in ein Heim kam.
Wenn Peggy Parnass die Bosheit der Menschen in Deutschland, die verständnislosen schwedischen Familien und die Sadismen britischer Internate beschreibt, kann einem die Luft weg bleiben, so nachhaltig prägen sich die Szenen ein, in denen Kinder in den Schrank gesperrt werden, wenn sie nicht essen oder den Geschwistern der Kontakt miteinander verboten wird, obwohl die Erwachsenen wissen, dass die Kinder niemanden mehr als sich selbst auf der Welt noch haben. Parnass schreibt in einer klaren, knappen, scheinbar kindlichen Sprache, die keine Abschweifung kennt, alles beim Namen nennt, auch wenn dann eine Anstaltsleiterin als „Drecksau“ bezeichnet wird; Gefühle müssen sein, egal ob Zorn, Trauer oder Liebe. Letztere erlebt sie bei der Mutter, obwohl die auch schwach ist und den Kindern nicht zu helfen vermag, wenn ihre Tochter wieder einmal von einer Erzieherin gedemütigt wird.
Macht ist oftmals ein Thema in diesen kurzen Prosaflecken der Erinnerung, aus denen sich das Buch zusammensetzt. Warum funktioniert es so gut? Weil Parnass Gefühle nicht beschwört, sondern direkt aus Anekdoten oder Situationen herstellt. Sie erzählt, und die Wirkung stellt sich wie von alleine her. Sie ist eben trotz des scheinbar naiven Erinnerungstons ein Profi, galt sie doch in den 60er Jahren als Königin der Gerichtsreportage. Dass die Zeitschrift Konkret heute Legendenstatus genießt, lag auch an ihren Texten, die damals – und daran hat sich bis heute nichts geändert – einen so unmittelbaren Blick auf die soziale Realität Westdeutschlands warfen, dass damit an Unmittelbarkeit kein anderes Medium mithalten konnte.
Dem Buch sind die Holzschnitte der Brasilianerin Tita do Rêgo Silva mitgegeben worden, die in ihren Tier-und Pflanzenornamenten und den leuchtenden Orange- und Gelbtönen dem Text eine abstrahierende Dimension verliehen. Sie stellen Distanz her und geben dem Text eine allgemeingültige Dimension, die vom Leiden der Kinder in einer Welt autoritärer Ideologie kündet. Ein Buch, das also im Moment nur noch an Aktualität gewinnen kann.
Peggy Parnass / Tita do Rêgo Silva: „Kindheit – Wie meine Mutter uns vor den Nazis rettete“ | S. Fischer Verlag | 14,99 €
Info: Die Buchvorstellung bei der lit.kid.Cologne am 17.3. ist ausverkauft.
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