Der sexuelle Missbrauch in pädagogischen Einrichtungen wie dem Canisius-Kolleg oder der Odenwaldschule hat die Gemüter bewegt. Nach Jahrzehnten des Totschweigens kam die Wahrheit endlich ans Licht: Pädagogen und Priester haben sich an ihnen anvertrauten Kindern vergangen und deren weiteren Lebensweg gezeichnet. Die Täter waren Autoritätspersonen, die Opfer waren ausgeliefert und wurden zum Schweigen gezwungen. Innerhalb der Institution wurde weggeschaut. Allein gelassen mit dem erlittenen Unrecht verstummten die Opfer aus Scham. Nicht selten suchten sie die Schuld bei sich selbst. Die Verstrickung mit der Schuld des Täters schuf ein unauflösbares Band, zumal wenn ein Vertrauensverhältnis zwischen beiden bestand. Der „pädagogische Eros“ zerstörte nicht nur die kindliche Unschuld, sondern schuf gegenseitige Abgängigkeiten. Gut und Böse ließen sich im Erleben des Opfers nicht mehr trennen. Und genau um diese Ambivalenz in der Täter-Opfer Beziehung geht es in Brittens Kammeroper „The turn of the screw“, die 1954 im Rahmen der Biennale in Venedig uraufgeführt wurde.
Die Handlung der Oper basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Henry James aus dem Jahr 1898, die von merkwürdigen Ereignissen auf dem Landgut Bly erzählt. Eine junge Gouvernante erhält vom Vormund zweier Waisen den Auftrag, die Erziehung der Kinder zu übernehmen, mit der Auflage keinen Kontakt mit ihm aufzunehmen, da er nicht belästigt werden möchte. Bald merkt sie, dass sowohl das Mädchen als auch der Junge unter dem Einfluss verstorbener Dienstboten stehen, die den Jungen in seinem zerstörerischen Verhalten beeinflussen. Die Gouvernante nimmt den Kampf mit dem Schatten der Vergangenheit auf, der auf allen lastet. Seelische Abgründe tun sich auf, am Ende stirbt der Junge: Die Gouvernante wird in ihrem Aufklärungswillen zur Mitschuldigen.
Der befremdende Titel „Die Drehung der Schraube“ ist dramaturgisches Konzept: Mit jeder Episode der Erzählung dreht der Autor die Schraube der Verstrickung weiter bis zum todbringenden Stillstand, aus dem es für alle Beteiligten kein Entrinnen mehr gibt. Und ebenso entwickelt sich die Komposition „in Kreisen“, wie Britten sagte: Dem Stück liegt ein zwölftöniges Hauptthema zu Grunde, das sogenannte „Schraubenthema“, das in jeder Szene der Oper variiert und in den instrumentalen Zwischenspielen verdichtet wird. Die ungeklärten Fragen und die Vieldeutigkeit der Erzählung spiegelt die Musik wieder, die zwar äußerst klar strukturiert ist, aber in ihrer Ausgestaltung alles andere als eindeutig sein will. So konterkariert Britten in den Kinderliedern die Reinheit und Einfachheit des musikalischen Satzes durch abgründige Klangfarben im Orchester und die Verfremdung tonaler Zusammenhänge. Die Musik macht die tiefe Verstörung des Kindes unmittelbar erfahrbar.
Die Librettistin Myfanwy Piper zeigt in diesem Werk „die Verletzlichkeit der Unschuld zu allen Zeiten“ auf, ein Thema, das auch in anderen Opern Benjamin Brittens von zentraler Bedeutung ist. Es war Brittens Lebensthema, in dem seine traumatischen Erfahrungen in einem englischen Internat nachwirken. Seinem engen Mitarbeiter Eric Croizier vertraute er an, dass er als Junge missbraucht wurde. Auf diesem Hintergrund lässt sich das Zitat von Yeats‘ Gedicht „Das jüngste Gericht“ im Stück verstehen: „Wird der heilige Vorgang der Unschuld ertränkt, den Besten erlahmt der Glaube, und die Schlimmsten sind voll von leidenschaftlicher Heftigkeit.“
Zitat: „Mit jeder Episode der Erzählung dreht der Autor die Schraube der Verstrickung weiter bis zum todbringenden Stillstand“
Oper Köln/Trinitatiskirche I ab 11.2.
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