Der Tag, an dem die Moderne ihre Geburt erlebte, kann genau datiert werden. Es handelt sich um den 29. Mai 1912, als Vaslav Nijinsky seine Choreographie zu Igor Strawinskys Komposition „Le Sacre du Printemps“ im Pariser Théatre des Champs-Èlysées tanzte. So, wie die Bilder von Pablo Picasso zu Ikonen der Moderne wurden, erging es auch Strawinskys Ballettmusik. Was einstmals einen Skandal hervorrief, gehört heute zum Kanon der gehobenen Bildung. Dabei geht es im „Frühlingsopfer“ um ein heidnisches Ritual, das den Tod einer Jungfrau vorsieht, damit die Vitalität der Natur entfesselt in die Erde und den Kreislauf der Jahreszeiten einschießen kann.
Diese Heiligsprechung eines Kunstwerks, das sein Publikum durch die Wucht erschütterte, mit der die rohe Fremdheit archaischer Gewalt gefeiert wurde, ging dem Franzosen Laurent Chétouane - der zu den schillernsten Regie-Persönlichkeiten des deutschen Theaters zählt - ziemlich gegen den Strich. Schon mit dem Titel „Sacré Sacre du Printemps“ seiner Produktion - die er auf PACT Zollverein in Essen für die Ruhrtriennale entwickelte - verleiht er seiner Vorlage den ironischen Heiligenschein. Sieben Tänzer und Tänzerinnen hüpfen geziert wie Kraniche im Kreis herum, so wie man es oftmals schon in Volkstänzen gesehen hat. Aus ihnen hatte Strawinsky auch seine Inspiration für das Werk gezogen. Dieses Hüpfen und Springen stellt sich aufreizend harmonisch dar, ja neckisch wirkt es mitunter, suchen die Tänzer doch mit naiv-verführerischem Gestus den Blick des Publikums.
Chétouane setzt auf die kalkulierte Zuspitzung, er will die Fremdheit wieder sichtbar machen, die im „Frühlingsopfer“ steckt. Und er hat sie auch schon geortet, Strawinskys Musik wird der rohe, zermalmende Antrieb zugeschrieben, der quer zu den ethischen Vorstellungen unserer Gesellschaft steht. Nicht unoriginell, der Gedanke einer Heldenrettung jenes kantigen Meisterwerks. Freilich haben Pina Bausch, Maurice Bejart und zuletzt in Köln das Ensemble von Beijing Dance I LDTX noch schlagend demonstriert, dass „Sacre du Printemps“ nichts von seiner Wildheit einbüßen muss, wenn man es mit Verve angeht.
Die fehlt Chétouanes Choreographie freilich vollkommen. Fast zwei Stunden lässt er seine Tänzer in wechselnden Formationen mit angezogenen Knien über die Bühne hüpfen. Dabei schlenkern ihre Arme in die Höhe, die Hände zeigen in den Himmel. Leere Gesten, oder zumindest solche, denen im Fingerzeig nach oben die Energie verloren geht. Der Musik kommt der Part des Ungeheuers zu, die Tänzer üben derweil in Socken und Shorts wie Turnschüler den Ringelrein. Das ist eine Minute ironisch und dann nur noch fad. Dieser ironische Gestus vermag nicht der Wucht der Musik zu begegnen. Will man das „Frühlingsopfer“ ironisieren, dann muss man auch das ironische Kaliber dazu ins Feld führen, eine Idee alleine reicht dazu nicht. Hier fehlt die Virtuosität eines choreographischen Pendants zur Musik. Mehr als scherzhafte Ratlosigkeit vermögen Chétouanes Tänzer nicht ins Feld zu fügen. So versandet diese Produktion, die zum Ende der Triennale noch einmal einen Paukenschlag setzen sollte, schnell in marginalem Ballett-Geplänkel, das vom interessierten Publikum in Essen auch nicht bejubelt werden wollte.
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