engels: Den Eindruck, früher sei alles besser gewesen, äußern auffällig oft 35- bis 55-Jährige. Warum?
Lars Schwabe: Da spielen verschiedene Aspekte mit rein. Einige Aspekte, die vielleicht der aktuellen Lebenssituation geschuldet sind, aber auch bestimmte Erinnerungsphänomene. Bei den 35- bis Anfang 50-jährigen spricht man ja auch von der „rush hour of life“. Das heißt, da kommen sehr viele Herausforderungen zusammen: Berufliche Etablierung, eine Phase, in der vielleicht auch beruflich neue Aufgaben hinzukommen und das parallel zur Phase, in der viele Personen eine Familie haben, vielleicht kleinere Kinder, vielleicht auch eine Pflegeverantwortung. Da kommen natürlich sehr, sehr viele Sachen zusammen, die insgesamt dazu beitragen, dass möglicherweise die aktuelle Situation tatsächlich sehr herausfordernd ist und es vielleicht sogar real früher besser, entspannter, flexibler war. Das ist ein möglicher Mechanismus. Dann ist es aber so, dass bestimmte emotionale Erfahrungen in unserem Gedächtnis besonders abgespeichert sind. Wir haben die Tendenz, uns an ganz besonders negative, aber auch an besonders positive Erfahrungen besonders stark zu erinnern. Wenn es dann bei Personen vielleicht so war, dass es viele positive Erfahrungen in einer bestimmten Phase gab und diese möglicherweise dann auch die negativen überwiegen, setzt ein Filterprozess ein und das, was damals der Alltag war, ist im Gedächtnis nicht mehr so stark repräsentiert. Einzelne positive Spitzen stechen heraus und werden als repräsentativ für die gesamte Episode betrachtet. Und wenn man nur mit diesen positiven Spitzen kontrastiert, dann kann die aktuelle Situation als negativer und die vergangene Situation als positiver wahrgenommen werden.
„Erfahrungen, die wir erstmalig machen“
Sammeln wir ständig gleich viele Erinnerungen?
Es gibt über die Lebensspanne hinweg bestimmte Zyklen. Wir wissen, dass aus den ersten Lebensjahren typischerweise sehr wenig bewusst erinnert werden kann. Man spricht auch von der infantilen Amnesie. Aus der sehr späten Kindheit, der Jugend, dem jungen Erwachsensein können wir hingegen sehr viel erinnern. Das hängt typischerweise damit zusammen, dass es eben viele sogenannte „first time experiences“ gibt, also bestimmte Erfahrungen, die wir erstmalig machen. Deshalb ist diese Lebensepisode relativ stark bei uns im Gedächtnis verankert, während dann das Lebensalter zwischen 35 und vielleicht 50 mehr vom Alltag geprägt ist, von sich wiederholenden Ereignissen, die weniger stark im Gedächtnis repräsentiert sind.
„Fehlinformationseffekt“
Wie kommt es eigentlich, dass man einem Menschen etwas so einreden kann, dass er am Ende wirklich glaubt, er hätte das erlebt?
Unsere Erinnerungen laufen nicht einfach wie ein Video auf Knopfdruck ab, sondern sie sind ein konstruktiver Prozess. Erinnerung setzt sich aus bestimmten Bruchstücken zusammen. Wir haben ja verschiedenste Reize, die – während wir eine Erfahrung machen – auf uns einprasseln. Die werden in unserem Gehirn zusammengebunden zu einer bestimmten Erfahrung, zu unserer Erinnerungsspur. Und dann ist es in der Erinnerungssituation so, dass diese einzelnen Bruchstücke der Erfahrung dann wieder einzeln aktiviert werden und sich gegenseitig verstärken können. So baut sich dann Stück für Stück eine subjektive Erinnerung auf. Das ist kein objektiver, sondern ein subjektiver Prozess und damit auch anfällig für verschiedenste Verzerrungen. Dazu gehört auch – man spricht von Suggestibilität – ein Fehlinformationseffekt. Das heißt, wenn ich eine bestimmte Erfahrung gemacht habe und danach bekomme ich von anderen Personen irreführende Informationen, bewusst oder unbewusst – vielleicht noch von einer Person, die mir nahesteht – dann ist es unter Umständen so, dass diese nachträglich gebenden Informationen auch in die Gedächtnisspur mit eingebunden werden. Es gelingt uns nicht mehr so gut, zwischen verschiedenen Quellen zu unterscheiden.
„Kontrastierung mit der Gegenwart“
Können schöne Erinnerungen uns auch glücklich machen, darin bestärken, dass wir ein schönes Leben hatten und haben?
Im positiven Falle ja. Wenn wir im Labor positive Emotionen hervorrufen wollen, dann besteht ein Weg darin, die Leute zu bitten, sich an positive Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit zu erinnern. Das funktioniert ziemlich gut. Wenn wir uns an positive Erfahrungen erinnern, dann geht es uns typischerweise besser. Dann fühlen wir uns in dieser Situation besser gestimmt. Bei dem „früher war alles besser“ schwingt allerdings noch etwas anderes mit: Eine Kontrastierung mit der Gegenwart. Und diese kann wiederum zu einer übermäßig negativen Sicht auf die Gegenwart führen.
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