engels: Herr Hasenclever, ist eine Welt ohne Krieg möglich?
Andreas Hasenclever: Prinzipiell glaube ich, dass eine Welt ohne Krieg möglich ist. Denn jeder einzelne Krieg kann verhindert werden. Es gibt ziemlich lange Vorlaufphasen. Kriege müssen geplant und entschieden werden. Und sie werden in der Regel auch nicht aus Spaß geführt. Das heißt, es geht im Grunde um Konflikte und in diesen Konflikten wollen die Parteien ihre Ziele erreichen. Manche Parteien sind skrupellos genug, mit Waffen zu drohen, um ihre Interessen zu verwirklichen. In diesem Verhandlungsspiel lassen sich meist Möglichkeiten finden, um einen Konflikt auch konstruktiv beizulegen. Doch das setzt voraus, dass dieses Gewaltspiel auch bis zu einem bestimmten Punkt mitgespielt werden kann. Soll bedeuten: Frieden ist möglich, aber nur in einer Welt, in der Krieg auch möglich ist. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten müssen wir Wege finden, um auf der friedlichen Seite zu bleiben. Doch das ist ziemlich kompliziert.
„Einer der ganz großen zwischenstaatlichen Konflikte ist der Ukraine-Krieg“
Wie viele Kriege gibt es derzeit auf der Welt?
Kriege sind ja erst einmal Formen kollektiver Gewalt, die mit einer hohen Intensität geführt werden. Deswegen gibt es bestimmte Schwellen, die in der Wissenschaft angesetzt werden, um kleinere von größeren Konflikten zu unterscheiden. Die Minimalanforderungen, die wir in der Wissenschaft im Augenblick an bewaffnete Konflikte haben, sind mindestens 25 Todesopfer im Rahmen von Kampfhandlungen binnen eines Jahres. Wenn man diese Minimalzahl ansetzt, dann haben wir momentan ungefähr 59 bewaffnete Konflikte. Sie finden meist innerhalb von Staaten statt. Doch wie wir alle wissen, gibt es auch zwischenstaatliche kriegerische Konflikte. Einer der ganz großen zwischenstaatlichen Konflikte ist im Augenblick der Ukraine-Krieg.
„Der Staat kann seine Bevölkerung relativ stark kontrollieren“
Wie unterscheiden sich innerstaatliche und zwischenstaatliche Konflikte?
Bei innerstaatlichen Konflikten haben sie es in der Regel mit Rebellenbewegungen zu tun. Diese müssen in der Lage sein, gegen eine Regierung einen Widerstand zu organisieren. Das ist oft gar nicht so leicht. Solche Bürgerkriege brauchen also ein erhebliches Maß an Vorlauf. Manchmal brauchen sie dazu auch internationale Unterstützung, obwohl sie auf dem Territorium eines Staates stattfinden. Der Staat ist dabei oft im Vorteil, weil er das Gewaltmonopol innehat und seine Bevölkerung relativ stark kontrollieren kann. Bei zwischenstaatlichen Kriegen haben Sie schon zwei hochorganisierte Akteure, die aufeinander losgehen und auch in der Lage sind, sehr schnell ein hohes Gewaltpotenzial zu entfalten. In Bürgerkriegen wiederum ist das gar nicht so leicht, auch, wenn sie über die Zeit hinweg sehr bösartig werden können.
„Jede Partei versucht, ihre Interessen durchzusetzen“
Was passiert, wenn eine Partei Schwäche zeigt?
Da sind wir jetzt mitten in diesen ganz kniffligen Bereichen der Konfliktforschung. Ausgehend von einer Konfliktsituation, in der Akteure zunächst ihre unvereinbaren Interessen verfolgen, wird von jeder Partei in erster Linie versucht, ihre Interessen so gut es geht durchzusetzen. Finden die Parteien für diese Interessen keine gemeinsame Lösung, können sie sich – wenn sie die Lage für aussichtslos halten – zurückziehen. Sie können aber auch versuchen, die andere Seite dazu zu zwingen, ihren Forderungen nachzukommen. Zuerst setzen sie ökonomische Sanktionen ein. Es ist auch möglich, die Innenpolitik der anderen Partei über Propagandamaßnahmen aufzumischen. Irgendwann können sie mit Waffengewalt drohen und in einem nächsten Schritt dann Truppen losschicken. Das sind im Grunde die bekannten Eskalationspfade, die wir in der Konfliktforschung haben. Wenn sie erstmal in einer solchen Konfliktsituation sind, herrschen starke feindselige Gefühle. Unter diesen Umständen Schwäche zu zeigen, ist immer ungünstig für egal welche Partei innerhalb der Konstellation. Das hat meist zur Folge, dass die andere Seite erst Recht damit anfängt, ihre eigenen Forderungen hochzufahren. Deswegen ist es für die Konfliktbearbeitung auch so wichtig, aus dieser unmittelbaren Konfrontation ein Stück weit heraustreten zu können, um dann auszuloten, wo eigentlich die Konzeptionsmöglichkeiten der einzelnen Parteien liegen.
„Der anderen Seite vertrauen können“
Wann verhandeln Kriegsparteien?
Kriegsparteien fangen in der Regel dann an zu verhandeln, wenn sie merken, dass der Konflikt für sie zu verlustreich ist und zwar sowohl mit Blick auf Menschenleben als auch mit Blick auf materielle Ressourcen. Diese müssen sie immer wieder in die Kampfhandlung hineingeben, auch, wenn sie sie ganz gerne für andere Dinge ausgeben würden. Darüber hinaus müssen auch eine Reihe anderer Bedingungen erfüllt sein. Den Parteien muss klar sein: Der Konflikt ist ihnen in verschiedenster Hinsicht zu teuer und sie möchten lieber eine Welt ohne, als permanent Ressourcen dafür aufzuwenden. Die nächste Frage ist: Gibt es eine Lösung, die für alle beteiligten Seiten akzeptabel ist? Finden sie eine Form der Aufteilung von Territorien, eine Entflechtung der Truppen? Es geht dabei aber nicht nur darum, dass eine akzeptable Lösung für alle Parteien gefunden wird, sondern dass die Parteien auch glauben, diese Einigung sei nachhaltig. Das heißt, dass sie der anderen Seite bereits so weit vertrauen können, dass, wenn sie selbst anfangen zu kooperieren, davon ausgehen können: Diese Kooperation wird nicht ausgebeutet. Als vierte Bedingung in diesem Spiel ist es nötig, das Vorhaben auch nach innen durchsetzen zu können. Daran sehen Sie, dass es gar nicht so einfach ist, laufende Konflikte über Verhandlungen zu beenden.
„Konflikte können einschlafen“
Wie und warum können Kriege außerdem enden?
Sie können enden, wenn eine Seite den Konflikt für sich entscheiden kann. Das heißt, es gibt ein Ende des Krieges durch die militärische Niederlage einer Seite. Das passiert durchaus sehr häufig, zunächst auch im Afghanistan-Konflikt. Im Falkland-Konflikt haben sich die Briten durchgesetzt. In Sri Lanka hingegen die Regierung. Den Nagorno-Karabach-Konflikt konnte gerade Aserbaidschan für sich entscheiden. Es kann immer sein, dass eine Seite militärisch deutlich überlegen ist und das zeigt sich dann auf dem Schlachtfeld. Nachher kann sie ihre Bedingungen der unterlegenen Partei, die aufgegeben hat, diktieren. Neben der Beendigung durch Verhandlungen oder der Niederlage einer Seite gibt es noch eine dritte Form, durch die Kriege enden: indem die Konflikte einschlafen. Entweder hören die Parteien mit den Kampfhandlungen auf, stellen sie ganz ein oder finden das Ganze zu kostspielig. Aber eine Lösung in irgendeiner Art und Weise ist nicht in Sicht. Das erleben wir beispielsweise im Kashmir-Konflikt: Hier werden immer wieder die Feindseligkeiten zwischen Indien und Pakistan hochgefahren. Dann hören sie irgendwann wieder auf und es herrscht eine Zeit lang Ruhe zwischen den Fronten. Ähnlich verhält es sich momentan zwischen China und Taiwan. Hier lässt sich auch schlecht sagen, ob diese Konflikte nicht doch irgendwann noch zu einem größeren militärischen Konflikt eskalieren. Im Augenblick befinden wir uns in einer An-Aus-Phase, in der beide Seiten immer wieder drohen, dann aber diese Drohungen nicht realisieren. Also, Konflikte können einschlafen. Das ist in der internationalen Politik nicht so häufig der Fall, aber in vielen innerstaatlichen Konflikten können wir das beobachten. Denn die anhaltenden Kampfhandlungen sind extrem verlustreich: Sowohl mit Blick auf die Menschenleben, die dort gefährdet und auch verloren werden, aber auch mit Blick auf die ökonomischen Ressourcen, die notwendig sind, um solche Kampfhandlungen überhaupt zu finanzieren.
„Größere militärische Operationen durchführen können“
Was müsste eine künftige Bundesregierung beachten im Umgang mit militärischen Konflikten oder Kriegen in Europa oder im Nahen Osten?
Das ist auch eine sehr schwierige und komplexe Frage. Momentan sind vor allen Dingen Infrastrukturmaßnahmen gefragt. Es müssen also die Grundlagen dafür gelegt werden, dass Regierungen international handlungsfähig sind. Da gibt es auf der einen Seite die militärische Dimension und auf der anderen die diplomatische Dimension. In der militärischen Dimension geht es vor allen Dingen darum, überhaupt in der Lage zu sein, größere militärische Operationen durchführen zu können. Das ist ja im Prinzip seit der „Zeitenwende“ in aller Munde. Ich habe den Eindruck: Da passiert auch einiges und ich halte das auch für notwendig. Gleichzeitig ist es auch wichtig, neben der militärischen Dimension auch die diplomatische Dimension wieder in den Vordergrund zu rücken. Sie müssen permanent und glaubwürdig signalisieren können, dass sie gleichermaßen entschlossen sind, ihre Interessen notfalls auch mit militärischer Gewalt gegenüber Aggressionen zu verteidigen, aber dies auch in einer Art und Weise machen, dass die andere Seite sich nicht unmittelbar bedroht davon fühlt. Sie müssen sozusagen wieder in dieses Spiel einsteigen, das wir noch aus dem Kalten Krieg kennen – wo Aufrüstungsschritte so organisiert wurden, dass sie Verhandlungsprozesse anstoßen konnten. Ob sie dann angestoßen werden, ist nochmal eine andere Frage. Aber klar ist: Man möchte nicht in so eine furchtbare Gewaltspirale hineinkommen, in der jeder eigene Aufrüstungsschritt als aggressiv identifiziert wird und sich dann im Grunde gegen einen richtet.
Wie sollte sich die künftige Regierung zu gegenwärtigen Konflikten positionieren?
Mit Blick auf die Ukraine denke ich, dass die Regierung das Land nach wie vor massiv unterstützen muss. Auf internationalem Parkett muss sie dafür werben, dass andere Akteure auf Russland einwirken, um diese Kampfhandlungen einzustellen. Solange Russland so starke und massive Unterstützung von China, Iran, aber auch einer Reihe anderer Staaten des globalen Südens erhält, wird es schwierig, den Kreml davon zu überzeugen, dass diese Kampfhandlungen letztendlich gegen seine eigenen Interessen verstoßen. Mit Blick auf den Nahen Osten wird es notwendig sein, die Friedensprozesse mit Geld zu unterstützen, zu helfen, dass Wiederaufbaumaßnahmen im Gazastreifen, im Libanon, aber auch in Syrien aufgenommen werden, damit wieder mehr Stabilität in die Region einkehren kann.
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