engels: Herr Sauer, seit Jahren klagt die Wirtschaft über einen dramatischen Fachkräftemangel. Trotzdem gibt es – so zumindest der Eindruck – kaum erfolgreiche Projekte, um Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben und zu integrieren. Woran liegt das?
Michael Sauer: Ich habe da eine andere Einschätzung. Ich glaube nicht, dass es zu wenige, beziehungsweise zu wenig erfolgreiche Projekte gibt. Im Gegenteil, es existieren eigentlich viele Pilotprojekte. Unter anderem in der Entwicklungszusammenarbeit, die GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) ist hier sehr aktiv. Die einzelnen Bundesländer haben eigene Ansätze und unterschiedliche Ministerien fördern Projekte. Auch die verfasste Privatwirtschaft engagiert sich sehr stark. Zudem hat die EU einen Fördertopf aufgesetzt, um entsprechende Projekte zu unterstützen. Im Gegenteil, ich persönlich sehe gar eine Art von Projektitis. Wir haben an der Hochschule ein größeres Forschungsprojekt durchgeführt, unter anderem mit einer Länderstudie zu Vietnam. Hier konnten wir sehr viele Akteure, die alle mit ihrem eigenen Ansatz vor Ort Projektpartner suchen, alle mit dem Ziel, Fachkräfte zu rekrutieren, lokalisieren. Der Punkt, den ich bemängle: Es wird noch zu wenig koordiniert, zu wenig vernetzt. Und in der Fläche, um zum Beispiel die Fachkräftezuwanderung für kleine Unternehmen realisierbar zu machen, braucht es Kümmerer-Strukturen, insbesondere auf kommunaler Ebene. Dazu gibt es aber auch schon spannende praktische Ansätze und gut funktionierende Beispiele. Hier gilt es anzusetzen.
„Es wird noch zu wenig koordiniert, zu wenig vernetzt“
Schlagzeilen machen oft Berichte über gut integrierte und arbeitende Migranten, die plötzlich abgeschoben werden. Auf der anderen Seite machen rechte Kräfte Stimmung mit Begriffen wie „Merkels Goldstücke“, darauf anspielend, dass Flüchtlinge oft ein sehr niedriges Bildungsniveau hätten. Hapert es in der Kommunikation?
Zunächst: Migratin:innen haben im Durchschnitt kein sehr niedriges Bildungsniveau. Das ist durch die Forschung gut belegt. Was wir nicht tun sollten: aus Einzelfällen allgemeine Aussagen ableiten. Zu Ihrer Frage: Ja, Kommunikation ist sicherlich ein ganz wichtiger Punkt. Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen, dass Probleme existieren, dass zum Beispiel Durchführungsinstanzen zuweilen rechtliche Spielräume sehr eng auslegen und gut integrierte Menschen mit Perspektive ausweisen, ohne die Lebenswirklichkeit der Menschen und der beteiligten Unternehmen in den Blick zu nehmen. Daneben existieren viele andere Rechts- und Regelkreisläufe, sehr medial präsent zum Beispiel die Abschiebeproblematik von Migrant:innen, die schwere Straftaten begangen haben. In der öffentlichen Diskussion werden diese und andere Phänomen oftmals in einen Topf geworfen und undifferenziert vermengt. Es hapert meines Erachtens daran, die vorhandene Komplexität verständlich zu kommunizieren. So wird die Deutungshoheit jenen Akteuren überlassen, die scheinbar einfache Erklärungen und Lösungsansätze liefern. Es gilt vielmehr, Beispiele von gelungener Integration stärker in den Vordergrund stellen und in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Sicherlich: Die Organisation der Fachkräftezuwanderung ist herausfordernd. Man denke zum Beispiel an die sprachlichen Barrieren, an die Unsicherheiten bei der Anerkennung von Qualifikationen und an administrative Hürden. Das ist unbestritten. Wenn es uns aber gelingt die vielfältigen positiven Effekte der Zuwanderung besser zu kommunizieren, dann bin ich optimistisch, dass wir nicht nur den öffentlichen Diskurs bereichern, sondern auch ganz praktisch die Zurückhaltung vieler Unternehmen bei Thema Zuwanderung besser adressieren können.
„Die Komplexität verständlich kommunizieren“
Wie stellt man sicher, dass die Herkunftsländer nicht massive Probleme in der Wirtschaft bekommen, wenn zu viele Fachkräfte abwandern – Stichwort „Brain Drain“?
Wenn man Migration als Kreislauf versteht und sich die einzelnen Abschnitte in diesem Kreislauf anschaut, findet man in jedem einzelnen Abschnitt eine ganze Reihe von gut funktionierenden Instrumenten. Die Toolbox ist bestens bestückt! Ein Beispiel: Das Deutsche Kompetenzzentrum für internationale Fachkräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen hat das Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ entwickelt. Leitend ist dabei die Frage: Was muss alles wie geregelt werden, damit die Anwerbung rechtlichen und ethischen Normen entspricht und wir von einer fairen Anwerbung sprechen können? Dieses Gütesiegel tragen mittlerweile mehr als 200 Rekrutierer in Deutschland. Zudem gibt es Projekte, die die Perspektive der Herkunftsländer bewusst adressieren. Ich selbst war eingebunden in ein Projekt, über das junge Menschen aus der Republik Kosovo in Ausbildungsberufe in der Bauwirtschaft in Bayern vermittelt wurden. Gleichzeitig hat sich der Bayerische Bauverband dazu verpflichtet, sich in der Ausbildung und Weiterbildung im Kosovo zu engagieren. Die Stärkung der Berufsbildungssysteme in den Herkunftsländern ist neben vielen anderen Ansätzen ein wichtiger Baustein in partnerschaftlichen Vorhaben. Die Unterstützung von Migrationsprozessen zum Nutzen aller Beteiligten ist also möglich. Zwar ist dies voraussetzungsvoll und auch sehr stark vom Einzelfall abhängig. Im Sinne einer nachhaltig gestalteten Arbeitsmigration ist dieser Zugang allerdings alternativlos.
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„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 2: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
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Teil 2: Lokale Initiativen – Der Verein Mosaik Köln Mülheim e.V. arbeitet mit und für Geflüchtete
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Teil 3: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
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Teil 1: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
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