engels: Herr Mischo, in der Vorbereitung auf dieses Interview fiel es mir sichtlich schwer, professionelle Distanz zu halten. Wie ergeht es Ihnen da in Ihrer Arbeit?
Frank Mischo: Leider kann ich auch nichts anderes sagen: Es geht unter die Haut. Wir haben direkt mit den Kindern und Jugendlichen zu tun, die diese dramatischen Verbrechen erlitten haben. Deshalb müssen wir dauerhaft überlegen, wie wir damit umgehen, z.B. auch dafür sorgen, dass wir psychologische Betreuung bekommen, wenn wir merken, dass einer von uns wirklich Probleme damit bekommt.
Wie verbreitet ist sexualisierte Gewalt in Kriegsregionen?
Es nimmt dramatisch zu. Laut eines Berichts des UN-Sonderbeauftragten für Kinder in bewaffneten Konflikten gab es allein im letzten Jahr eine Zunahme von 25 Prozent bei den dokumentierten Fällen. Wir erleben diese dramatische Zunahme auch in unseren Partnerländern. Was wir merken, ist, dass sexualisierte Gewalt systematisch als Kriegsmittel eingesetzt wird.
„Alles mit Frauen tun zu können, was sie wollen“
Sexualisierte Gewalt wird also gezielt eingesetzt. Mit welchem Zweck?
Es ist natürlich eine totale Machtdemonstration, die zur vollkommenen Zerstörung und Demoralisierung der Zivilbevölkerung eingesetzt wird. Viele der Soldaten sind Männer, die diese Macht schamlos ausnutzen – alles mit Frauen tun zu können, was sie wollen. Die Praktiken sind dabei sehr unterschiedlich: Bei der Entführung von Schulmädchen in Nigeria durch Boko Haram bspw. haben sich innerhalb von zwei oder drei Jahren beinahe Beziehungen zu den Entführern entwickelt. Aus diesen Vergewaltigungen sind Kinder entstanden und diese jungen Mädchen oder Frauen kehren dann wieder nach Hause zurück. In der Ukraine hingegen werden junge Frauen ganz gezielt eingesperrt und dann vergewaltigt. Dann wiederum ereignen sich Taten, die weder vorbereitet sind noch bewusst durchgeführt werden. Dennoch sind sie hochgradig dramatisch. Bspw. als vor kurzem im Kongo ein großes Gefängnis in der Millionenstadt Goma durch die Rebellengruppe M23 geöffnet wurde. Dabei sind fast alle weiblichen Insassen vergewaltigt worden.
„Meist bleibt es auch nicht bei einem Mal“
Kommt es auch vermehrt zu sexualisierter Gewalt, weil die Täter wissen, dass sie ohne Strafe davon kommen?
Genau. Doch der internationale Strafgerichtshof hat endlich einen Missbraucher aus dem Kongo wegen sexualisierter Gewalt angeklagt. Das ist ein riesiges internationales Signal an die Täter: Dass es passieren kann, vor den Strafgerichtshof oder ein regionales oder nationales Gericht gestellt zu werden. Die meisten Täter gehen davon aus, unerkannt zu bleiben und einfach weitermachen zu können wie bisher. Meist bleibt es auch nicht bei einem Mal, sondern die Täter, die das machen, üben vielfach Gewalt aus.
„Wir sind erschreckt, wie jung die Kinder oftmals sind“
Wie alt sind die Opfer?
Als Kinderrechtsorganisation sind wir vollkommen erschreckt, wie jung die Kinder oftmals sind, die sexualisierte Gewalt erleiden müssen. Wir erleben, dass überall Kinder betroffen sind. Es trifft Kinder, Frauen und geht bis hin zu Omas. Junge Frauen sind am meisten betroffen, aber es gibt keine Altersgrenze in irgendeine Richtung.
„Es geht darum, eine Versöhnung mit den Opfern zu erreichen“
Werden denn alle Taten derzeit erfasst?
Schaut man sich die offiziellen Zahlen an, bspw. die durch die Vereinten Nationen dokumentiert sind, dann ist es die absolute Spitze des Eisbergs. In der Ukraine wird von 13 Fällen gesprochen, weltweit von 1.470 dokumentierten Fällen im letzten Jahr, diese Fälle sind international aber von UN-Organisationen oder von Regierungen mehrfach dokumentiert. Wenn ein Fall verifiziert ist, dann ist er mehr oder weniger vor Zeugen in einem Raum passiert. Sonst ließe er sich gar nicht verifizieren. Doch das ist fast in den seltensten Fällen so möglich. Insofern wissen wir, dass es eine mehrhundertfache Dunkelziffer gibt, wenn nicht sogar eine mehrtausendfache. Bei den Kriegen im Kongo bspw. dauert die Erfassung ein Jahr oder noch länger, bis man überhaupt weiß, wie viele Betroffene es gibt. Es geht bewusst darum, eine Gerechtigkeit zu schaffen und eine Versöhnung mit den Opfern zu erreichen. Die Täter zu benennen, sie strafrechtlich zu verfolgen und möglichst dann auch hinter Gitter zu bringen.
„Die Täter sorgen dafür, dass es keine Zeugen gibt“
Was sorgt denn für diese Dunkelziffer: Dass so viele Taten einfach gar nicht erfasst werden können?
Die Täter sorgen dafür, dass es keine Zeugen gibt. Soll heißen: Oft werden alle Frauen in einem Raum vergewaltigt. Dann sind die Zeugen nicht mehr unabhängig und die Dokumentation wird ganz schwierig.
Bei Opfern in der Ukraine bspw. ist die Scham einfach zu groß, Taten überhaupt anzuzeigen. Einerseits sieht man die Familie als beschmutzt an oder befürchtet negative Auswirkungen. Aber es hat noch weitere Hintergründe: In der Ukraine ist der Konflikt noch nicht beendet. Es kann also sein, dass die russische Seite wieder zurückkommt. Wenn es vorab zur Anzeige gekommen ist, muss man also befürchten, nachher vielleicht verfolgt und zum zweiten Mal eventuell zum Opfer zu werden. Insofern ist die Angst ein weiterer großer Faktor, der das Ganze beeinflusst. Und die betroffenen Menschen spüren nicht, dass Täter unmittelbar strafverfolgt werden. Gleichzeitig haben sie aber nur Nachteile damit. Sie müssen in furchtbaren Verfahren teilweise drei- oder vierfach ihre Geschichte erzählen – eine riesige traumatische Zusatzbelastung. Viele der meist jungen Frauen zeigen die Tat dann gar nicht an, weil sie selbst damit nicht gut zurechtkommen. Denn es gibt weder gute psychologische Betreuung in der Situation noch finanzielle Unterstützung. Also warum soll man das dann überhaupt noch anzeigen? Diese Rückmeldung haben wir aus ganz, ganz vielen Ländern bekommen.
„Viele der Betroffenen sind erst dann ins Sprechen gekommen“
Gibt es eine Chance, dass nach Beendigung eines solchen Krieges doch noch Anzeigen eingehen?
Das erleben wir ganz oft. In Rwanda wurde im Rahmen der Versöhnungskommissionen – den sogenannten Gacaca Courts – über kleine lokale Gerichte mit den Opfern ein Täter-Opfer-Ausgleich versucht. Dabei wurde es dann auch geschafft, offen über die Verbrechen zu sprechen und eine Klarheit für die Versöhnung zu erreichen. Im Endeffekt war deshalb überhaupt erst eine Strafverfolgung mit Gerichtsverfahren möglich. Viele der Betroffenen sind so erst ins Sprechen gekommen. Wenn es eine funktionierende Strafverfolgung gibt, also eine nationale Gerichtsbarkeit, die tatsächlich verurteilt, motiviert das ungemein. Und das ist ein Grund dafür, die nationale Gerichtsbarkeit zu stärken. Sollte es national nicht so gut möglich sein, lohnt es, die internationale Strafverfolgung zu unterstützen.
„Oft hat es ein ganz klares System“
Was weiß man über die Täter:innen?
Es ist ein großer Unterschied, ob Menschen einfach diesen rechtsfreien Raum im Konflikt missbrauchen, um dann Macht über andere Menschen auszuüben oder ob es System hat. Im erstgenannten Fall handelt es sich zum Teil um Einzeltäter. Oft hat es aber auch ein ganz klares System, wie bei den Kony-Rebellen in Uganda. Sie haben bewusst alle Kinder eines Dorfes entführt, systematisch Mädchen missbraucht und als Ehefrauen an Kommandeure weitergegeben. Bei Boko Haram oder Al-Shabab passiert das in einer ähnlichen Form. Da werden Mädchen oder Frauen ihre Rechte vollständig abgesprochen. Sie werden sozusagen Verfügungsmasse für die Männer. Insofern hat es wirklich eine andere Dimension als in manchen Konflikten wie bspw. bei dem der M23 im Kongo. Im Konflikt ist es wahnsinnig schwierig, die Betroffenen wirklich zu unterstützen. Wir erleben tausende Frauen, die verzweifelt sind, weil sie vergewaltigt wurden und dann Schutz suchen – und nirgendwo hin können.
„Mit ähnlichen Betroffenen zusammenzubringen“
Wie gehen Sie da vor?
Wir versuchen über unsere Partner – wir sind selbst als Kindernothilfe nicht vor Ort – erstmal Vertrauen zu den Geflüchteten aufzubauen. Überhaupt über so traumatische Erlebnisse zu sprechen, ist wahnsinnig schwierig. Die meisten von sexualisierter Gewalt Betroffenen brauchen Zeit, das für sich zu verarbeiten. Deshalb erschwert es zum Teil auch die Strafverfolgung. Die Polizei möchte schnellstmöglich ein Protokoll aufnehmen, während die Person noch gar nicht dazu in der Lage ist, überhaupt Angaben zu machen. Insofern geht es für uns erst einmal darum, eine gute psychosoziale Unterstützung vor Ort zu organisieren, zu schauen: Was braucht die betroffene Person. Für manche ist es wichtig, dass die Täter bestraft werden und die Strafverfolgung schnellstmöglich vonstattengeht. Darüber kommen sie ins Sprechen. Aber das ist für uns nicht die erste Priorität, sondern uns geht es darum, der betroffenen Person das bestmögliche Leben nach solchen Erlebnissen zu ermöglichen. Wir versuchen sie mit ähnlichen Betroffenen zusammenzubringen, denn über den Austausch mit ihnen können sie neue Lebensperspektiven entwickeln und einen Umgang mit dem Erlebten finden.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Panzer vs. Schulen
Intro – Kriegszitterer
Multipolare Wirklichkeit
Teil 1: Leitartikel – Der Abstieg des Westens und der Aufstieg des BRICS-Bündnisses
„Zunehmende Unglaubwürdigkeit des Westens“
Teil 1: Interview – Politologe Ulrich Brand über geopolitische Umwälzungen und internationale Politik
Welt am Wendepunkt
Teil 1: Lokale Initiativen – Soziologe Joris Steg über Chancen und Risiken einer neuen Weltordnung
Ausgebeutet und gegeneinander aufgehetzt
Teil 2: Leitartikel – Wie der Westen Afrika in die Dauerkrise gestürzt hat
„Rassismus und Herablassung“
Teil 2: Interview – Historiker Andreas Eckert über die Folgen des europäischen Kolonialismus
Für ein Ende der Ignoranz
Teil 2: Lokale Initiativen – Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ im NS-Dok
Gewalt mit System
Teil 3: Leitartikel – Patriarchale Strukturen ermöglichen sexualisierte Gewalt als Kriegsmittel
Erinnern im ehemaligen Arbeitslager
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Initiative Gedenkort Bochum-Bergen
Zum Herzen durch Verstand
Wie Deutschlands Erinnerungskultur ein NS-Opfer vom Hass abbrachte – Europa-Vorbild Deutschland
Sündenböcke, Menschenrechte, Instagram
Deutschland und der Krieg – Glosse
„Die Schulen versagen bei politischer Bildung“
Teil 1: Interview – Politologin Nina Kolleck über die Vermittlung demokratischer Werte
„Dominierende Haltung: Reform der Schuldenbremse ist nötig“
Teil 2: Interview – Wirtschaftsweise Achim Truger über die Wirtschaftskrise und die Ideen der Parteien
„Jeder Krieg kann verhindert werden“
Teil 3: Interview – Politologe Andreas Hasenclever über Wege zum Frieden
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 1: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 2: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 3: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 1: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 2: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
„Nostalgie verschafft uns eine Atempause“
Teil 3: Interview – Medienpsychologe Tim Wulf über Nostalgie und Politik
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 1: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 2: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 3: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents