„Brutale Bluttat in Leipzig! Asozialer ersticht Frau. Kind bleibt allein zurück.“ – So würde die Boulevardpresse heute den Mord (vor-)verurteilen, den Johann Christian Woyzeck vor fast 200 Jahren beging. Aus Eifersucht erstach er am 21. Juni 1821 die 46-jährige Witwe Johanna Christiane Woost. Der Prozess ging in die Kriminalgeschichte ein, da er zum ersten Mal die Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten untersuchte, selbst der sächsische Thronfolger setzte sich mit einem Gutachten für ihn ein. Der vom Gericht mit der Untersuchung beauftrage Arzt hielt den Täter jedoch für zurechnungsfähig, so dass Woyzeck am 27. August zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet wurde. Die erhaltenen Krankenakten lassen heute darauf schließen, dass der Angeklagte unter Depressionen und Schizophrenie litt.
Büchner ergreift in seinem unvollendet gebliebenen Drama von 1836 Partei für Woyzeck, der erst durch die sozialen Umstände zum Täter wird. Er ist der klassische Underdog, ein Antiheld. Zunächst ordnet er sich unter und gehorcht. Doch als der Tambourmajor ihn mit seiner geliebten Marie betrügt, weiß er keinen Ausweg mehr: Er tötet Marie, dann nimmt er sich das Leben. Ihr Kind bleibt als Waise zurück.
Berg gelingt es, die unvollendet gebliebenen 31 Szenen Büchners zu einem in sich geschlossenen Musikdrama umzugestalten. Der Komponist sah das Schauspiel Wozzeck (!) 1914 in einer Bearbeitung des österreichischen Schriftstellers Franzos in Wien. Berg war tief beeindruckt und nutzte diese Version als Vorlage für sein Libretto. Sein einstiger Lehrer Arnold Schönberg riet ihm dringend von dem Stoff ab – eine Oper solle sich lieber mit Engeln, als mit Offiziersdienern beschäftigen. Doch Berg wagt es, neue Wege zu gehen und verschafft in seinem Musikdrama dem leidenden Menschen Gehör, der an dem Räderwerk einer mitleidlosen Gesellschaft zerbricht.
Die soziale Wirklichkeit hält Einzug in die Oper. Das hat eine Vielfalt der musikalischen Ausdrucksmittel und Stilebenen zur Folge, eine Musiksprache, die neben satirischen Tönen, wie etwa in der derben Wirtshausszene, auch verstörende Töne für das zunehmend psychotische Erleben der Hauptfigur findet. Wozzeck ist zuerst Opfer, bevor er zum Täter wird: Der Mord ist die bittere Konsequenz der persönlichen Deformation Wozzecks, die er durch die Gesellschaft erlitten hat. Und die Misere nimmt kein Ende: Der Gesamtaufbau der Oper ist von der Idee des ausweglosen Kreisens geprägt: Alle drei Akte schließen mit dem gleichen Akkord und die Schlußszene könnte musikalisch direkt wieder in den Anfang der Oper übergehen. Bergs expressive Musiksprache ist nicht allein der strengen Atonalität verpflichtet, sondern bedient sich oft einer freien Polytonalität, in der tonale Relikte verfremdet und mit Dissonanzen angereichert werden. Verzerrte Stilzitate, wie etwa der groteske Walzer bei der Untersuchung des Doktors oder das grell verfremdete Jägerlied in der Wirtshausszene spiegeln den Zynismus und die Aggressivität aller Beteiligten wider. Jeder kämpft hier gegen jeden, der Stärkere siegt, der Schwächere verliert.
Wie sieht die Zukunft des Kindes von Marie und Wozzeck aus? Hat das Kind aus „schwierigen Verhältnissen“ überhaupt eine Chance? Mehr als achtzig Jahre nach der Uraufführung von 1925, ist die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft nicht gelöst.
„Wozzeck“ von Alban Berg I R: Ingo Kerkhof I Oper Köln (Palladium) I Mi 1.6., Do 9.6., Sa 11.6., Do 16.6., Sa 18.6., Do 23.6., Sa 25.6. je 19.30 Uhr, So 5.6. 16 Uhr, Mo 13.6. 17 Uhr I 0221 22 12 84 00
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